Der falsche Zeuge
vorsichtig.
Ludmilla schaut auf. Trifft den fragenden Blick beider Ärzte. Sie zögert noch einen Moment. Aber schließlich nickt sie.
Ganz langsam.
Der ältere Arzt schaltet die Geräte ab.
Ruta liegt bewegungslos unter der Decke. Schneeweiß im Gesicht, wie sie schon die ganze Zeit ausgesehen hat. Seit ich sie bewusstlos im kalten Wasser gefunden habe.
Plötzlich scheint es, als würde der kleine Körper erzittern. Ein schwaches Röcheln folgt darauf.
Dann Totenstille.
Die Ärzte arbeiten routiniert. Mit sicheren Handgriffen befreien sie Ruta endgültig von allen Messgeräten und Maschinen des Krankenhauses. Und sprechen damit ihr Urteil.
Es fällt mir schwer, die Augen von ihr abzuwenden. Kindliche Unschuld, von fülligem schwarzen Haar umgeben.
Ludmilla bricht in Tränen aus. Sie beugt sich über die Leiche ihrer Schwester im Bett. Küsst sie auf die bleichen Wangen.
Später geht sie langsam hinaus auf den Flur. Alleine und ohne gestützt zu werden.
»Ich gehe jetzt mit Sergei«, sagt sie und fährt sich mit einem weißen Taschentuch über ihre Wangen. Tränen gemischt mit dunklem Make-up. »Er hilft mir.«
»Gut.«
»Aber wir müssen später noch zusammen reden.«
»Ruf mich einfach an.«
Ich schaue ihnen nach, wie sie den langen, hell gestrichenen Gang entlanggehen. Bis sie hinter einer Ecke verschwinden.
Erst dann gehe ich selber los. Mit jedem Schritt spüre ich, wie das Verlangen stärker wird, so schnell wie möglich unter freien Himmel zu kommen, um saubere, frische Luft außerhalb des schwermütigen Krankenhauses einzuatmen.
Ich habe an diesem Ort nichts mehr zu suchen. Ruta tritt ihre letzte Reise auf den vorgeschriebenen Weg durch die Institutionen an. Zuerst zur Autopsie. Dann ins Grab. Anderthalb Quadratmeter des gelobten Landes warten auf sie im Friedhof in Grafarvogur. Es sei denn, der Körper wird eingeäschert.
Verdammtes Leben!
Ein sanfter Regen fällt langsam zur Erde in der dunkler werdenden Abenddämmerung. Die leichten Tröpfchen legen sich in der Windstille auf Gesicht und Hände.
Ich setze mich wütend in meinen Silberpfeil. Lege einen Kavaliersstart hin. Rausche brutal über den Parkplatz der Uniklinik.
Máki hat mir ein verhältnismäßig neues Foto von Audólfur Hreinsson besorgt.
Er hat es zufällig im Spiegel der Berühmtheiten gefunden, die egoistische Nabelschau betreiben: Séð & heyrt {} .
Man sieht Audólfur nicht an, dass er ein grobschlächtiger Rohling ist. jedenfalls nicht auf diesem Foto.
Aber seine Unverschämtheit ist trotzdem deutlich an seinem Gesichtsausdruck abzulesen. Sie leuchtet aus seinen dunklen Augen. Und charakterisiert seine überheblich zusammengekniffenen Lippen.
Margrét hat sich das Bild schon angeschaut. Sie tendiert dazu, dass er bei der lauten Gruppe dabei gewesen ist, die am Mittwochabend in die Nachbarwohnung gegangen sei. Aber sie will auch nicht ausschließen, dass sie ihn an einem anderen Tag auf dem Flur gesehen hat.
Das genügt mir. Bin gerade in der richtigen Stimmung, mir den Kerl vorzunehmen. Und zwar jetzt. Aber zuerst muss ich diesen Ganoven auftreiben.
Er hat Büros an verschiedenen Stellen im Großraum Reykjavik, und ich klappere eins nach dem anderen ab. Schüchtere Wachmänner und Telefonfräuleins ein. Und lasse nicht locker, bis mir eine von ihnen zuflüstert, wo Audólfur vor etwa einer halben Stunde war.
Da fahre ich wieder in die Innenstadt. Brause auf den asphaltierten Parkplatz hinter dem Eldóradó und steige direkt vor dem Hintereingang der Stripbar in die Eisen.
Audólfur Hreinsson ist auf dem Weg nach draußen. Zwei Wachmänner begleiten ihn. Der eine stellt sich vor seinen Anführer. Als ob er ihn vor meinem Silberpfeil schützen wollte. Oder vor mir. Der andere geht schon mal über den Parkplatz vor und öffnet die Türen eines neuen, glänzenden schwarzen BMWs.
Ich rufe Audólfur zu.
Er ist genauso schwarz angezogen wie sein Onkel
Porno-Valdi. Es scheint die Lieblingsfarbe der Audólfsfamilie zu sein. Und die des Teufels.
Audólfur winkt mich weg, als er mich sieht.
»Meine Anwälte kümmern sich um alle Schulden«, ruft er frech. »Sprich mit ihnen darüber.«
»Ich will keine verdammten Schulden eintreiben«, antworte ich.
»Was willst du dann?«
»Mit dir über Ófeigur und Konsorten reden.«
Er bleibt an der offenen Tür des Autos stehen. »Okay«, sagt er schließlich, »rein mit dir.«
Ich setze mich auf den Beifahrersitz.
Als Audólfur sich hinter das Steuer geklemmt hat, knallen
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