Der falsche Zeuge
Palli zu: »Warum hast du mir nichts davon gesagt, als die Briefe im Sommer kamen?«
»Wie konnte ich das?«, antwortet er. »Ich wollte dich nicht verlieren.«
Eine Art späte Liebeserklärung. Die nicht dazu taugt, Drífa zu erweichen.
»Sind das die einzigen Fotos, oder gibt es noch mehr?«, fragt sie.
»Es gibt noch mehr.«
»Ja, und dann sind da ja auch noch die Negative. Weißt du, wer sie verwahrt?«
»Zur Zeit befinden sich die Negative an einem sicheren Ort«, antworte ich und nehme die beiden Fotos wieder an mich.
»Hast du sie vielleicht?«, fragt Siggi Palli.
»So, wie die Dinge momentan stehen, kann ich euch darüber nicht mehr sagen.«
Drífa wirft einen schnellen Blick in den großen Spiegel in der Diele. Wirft ihr helles Haar auf den Rücken und bastelt ein wenig an ihrem geschmackvoll geschminkten Gesicht.
»Warum stehst du da herum wie eine Salzsäule?«, fragt sie Siggi Palli mit eiskalter Stimme. »Meinst du, dass ich mir von dir auch noch die Party verderben lasse?«
Ihre hellen blauen Augen strahlen eine derartige Kälte aus, die eine kochend heiße Geysirfontäne im Handumdrehen zu einem Eis am Stiel gefrieren lassen könnte.
23
Ludmilla bringt eine Flasche mit sauteurem Cognac mit. »Wir trinken auf Ruta«, sagt sie, während wir die Treppe hochsteigen. »Wie heißt das auf Isländisch. Totenwache, oder so ähnlich?«
»Du meinst wahrscheinlich Leichenschmaus«, antworte ich. »Aber der findet normalerweise erst nach der Beerdigung statt.«
»Ich finde, es ist jetzt die richtige Zeit, den zu trinken.«
Sie macht es sich auf dem Sofa bequem, während ich uns einen Espresso koche. Und hat uns schon die Cognacgläser eingeschenkt, als ich wieder ins Wohnzimmer komme.
Wir prosten uns zu.
»Liebste Ruta«, sagt Ludmilla leise. Sie starrt wie hypnotisiert auf den Alkohol im bauchigen Glas. Leert es dann mit einem Schluck.
Ich gieße uns die Gläser nach. Während sie etwas in ihrer Tasche sucht. »Kannst du die hier für uns spielen?«, fragt sie und reicht mir eine CD.
Ich lausche schweigend der fremden Musik. Sie klingt schwermütig. Drückt Trauer und Verlust aus. Zitternde Töne ohne Text. Trotzdem sagen sie mehr als lange Reden. Sprechen die Sprache der Gefühle. Gehen einem direkt zu Herzen.
Ludmilla nippt gerade ein paar Mal am Kaffee. Aber kippt sich Cognac in den Hals.
»Weißt du, ich habe immer Angst gehabt, dass Ruta zu Hause in Lettland etwas Schlimmes passieren könnte, wenn ich nicht bei ihr war«, sagt sie. »Ich war überzeugt, dass sie hier auf Island viel sicherer wäre.«
»Das Böse ist überall.«
»Ich habe auf sie aufgepasst, seit sie fünf Jahre alt war.«
Ludmilla beginnt, mir von ihren Jugendjahren in Lettland zu erzählen. Da war alles so anders als das, was sie auf Island gesehen hat. Keine Berge. Keine Lava. Nur plattes Land und bewaldete Hügel. Und auch viele andere Völker um sich herum, die meisten größer und mächtiger. Die Russen, die so lange alles diktiert haben. Aber auch Polen, Litauer und Esten.
Alles so anders. Vielleicht mit Ausnahme des Meeres. Der Faxaflói und die Ostsee. Sie wohnten in der Hauptstadt Riga. Die genauso an der Küste liegt wie Reykjavik. Ihr Vater verschwand, kurz nachdem Ruta geboren wurde. Ludmilla hat ihn erst viele Jahre später wieder gesehen. Als ihre Mutter gestorben war.
»Ich weiß nie, wo er ist«, sagt sie. »Er ist immer unterwegs.«
»Was macht er?«
»Business.«
»Wie Sergei?«
Sie schaut mich mit ihren dunklen Augen an. »Weißt du, er hat Sergei gesagt, er soll aufpassen, dass Ruta und mir nichts passiert«, sagt sie. »Er hat mir auch Arbeit besorgt und bessere Wohnung.«
»Was für eine Arbeit?«
»Einfach nur eine Arbeit, um Geld verdienen. Es war nach dem Umbruch, und ich wollte auch versuchen, daran zu verdienen, wie alle anderen, kaufen und verkaufen, und so.«
»Und hast du viel verdient?«
»Manchmal. Aber ich bin trotzdem nicht steinreich.«
»Arbeitest du jetzt für deinen Vater in Island?«
Sie gießt sich noch eine Ration des starken Cognacs ein. Und vermeidet, die Frage zu beantworten. »Papa hat Ruta oft lange nicht gesehen, nur ganz selten, aber ich weiß ganz genau, dass er wütend wird, wenn er erfährt, was mit ihr passiert ist.«
»Hast du mit ihm in den letzten Tagen gesprochen?«
»Nein, aber ich weiß es einfach. Weißt du, ich bin oft so wie Papa.«
»Inwiefern?«
Ludmilla guckt mir direkt in die Augen. Es sieht aus, als würde plötzlich eine dunkelrote
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