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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
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angeht, es war schlecht frisiert und wenig anziehend. Sie verschlang alle Bücher, die ein kleiner jüdischer Student aus Riga ihr lieh, und verachtete alle jungen Männer.

    Dann kam trotz allem die Zeit, wo ich mich über die Grenze schmuggeln mußte, um in Deutschland mein Dienstjahr abzuleisten, da ich mich sonst gegen die eindeutigste Forderung meines Gewissens vergangen hätte. Ich exerzierte unter der Fuchtel von Unteroffizieren, die schwach vor Hunger und Bauchschmerzen waren und nur daran dachten, sich Brotkarten zu besorgen. Von meinen Kameraden, die schon damals ein Vorspiel zum großen Nachkriegsdurcheinander lieferten, waren einzelne ganz sympathisch. Zwei Monate später wäre ich sicherlich ins Feld geschickt worden, um die von der feindlichen Artillerie zertrümmerte Front flicken zu helfen; mein Leib wäre dann wohl nur noch ein Teil der französischen Erde, und mein Blut würde friedlich in Frankreichs Weintrauben kreisen und in den Brombeeren, die die Kinder von den Hecken pflückten. Statt dessen aber kam ich gerade noch zur rechten Zeit, um die völlige Niederlage unserer Armee und den mißglückten Sieg des Gegners mitzuerleben. Die schönen Zeiten des Waffenstillstandes, der Revolution und der Inflation begannen. Natürlich war ich ruiniert und blickte mit sechzig Millionen anderer Menschen in eine hoffnungslose Zukunft. Es war der gegebene Augenblick, um auf den Gemütsköder einer rechts- oder linksgerichteten Utopie anzubeißen; aber ich habe diesen aufgeblasenen Wortschwall nie leiden können. Ich sagte Ihnen schon, daß ich nur rein menschliche Beweggründe für mein Handeln kenne, ohne irgendwelche Vorwände zu berücksichtigen, so daß meine Entscheidungen stets von einem bestimmten Gesicht, einem bestimmten Körper abhängig gewesen sind.
    Der geplatzte russische Dampfkessel verbreitete über  ganz Europa eine Wolke angeblich neuer Ideen; in Kratovice hatte sich ein Generalstab der Roten Armee einquartiert; die Verbindungswege zwischen Deutschland und den baltischen Ländern wurden immer gefährlicher, und Konrad gehörte zu jenen jungen Leuten, die keine Briefe schreiben. Ich selber hielt mich für erwachsen. Das war mein einziger Jugendirrtum; trotzdem war es selbstverständlich, daß ich, mit den anderen jungen Leuten und der alten Närrin von Kratovice verglichen, das reife und erfahrene Alter repräsentierte. Ein verantwortungsbewußtes Familiengefühl erwachte in mir, und zwar mit solchem Nachdruck, daß ich sogar das junge Mädchen und die Tante Praskovia unter meinen Schutz nahm.

    Trotz ihrer pazifistischen Gesinnung billigte meine Mutter meinen Eintritt in das Freikorps des Generals Baron von Wirtz, das in Estland und Kurland gegen die Bolschewiken kämpfte. Die arme Frau hatte in jenen Gebieten Besitzungen, die von den Gegenangriffen der bolschewistischen Revolution bedroht waren und deren immer fragwürdiger werdende Einkünfte sie allein vor dem traurigen Schicksal schützen konnten, als Plätterin oder als Hotelzimmermädchen zu enden. Aber nicht weniger wahr ist, daß der Kommunismus im Osten und die Inflation in Deutschland ihr die willkommene Möglichkeit boten, ihre Freunde darüber hinwegzutäuschen, daß wir schon längst, ehe der Krieg zwischen dem Kaiser und den Alliierten begonnen hatte, ruiniert waren. Es war immer noch besser, für das Opfer einer Katastrophe gehalten zu werden als für die Witwe eines Mannes, der sich in Paris von Mädchen und in Monte Carlo von Croupiers hat ausnehmen lassen.

    Ich hatte Freunde in Kurland; ich kannte das Land und sprach seine Sprache, ja sogar verschiedene Ortsdialekte. Trotz meiner Anstrengungen, so rasch wie möglich Kratovice zu erreichen, brauchte ich doch volle drei Monate, um die hundert Kilometer von Riga bis dort hinter mich zu bringen: drei feuchte, neblige Sommermonate, in denen man überall den jüdischen Händlern begegnete, die aus New York herbeigeeilt waren, um den russischen Flüchtlingen billig ihre Schmucksachen abzukaufen; drei Monate noch strenger Disziplin, Generalstabsgerüchte, mehr oder minder sinnloser Attacken, Tabakrauch, ständiger, bald dumpfer, bald wie ein heftiges Zahnweh bohrender Unruhe.

    Nach etwa zehn Wochen sah ich Konrad wieder. Er trug eine tadellos sitzende Uniform, für die sicher einer von Tante Praskovias letzten Diamanten draufgegangen war. Er war blaß, und eine kleine bläuliche Narbe auf der Oberlippe gab ihm das Aussehen, als zerkaue er zerstreut ein Veilchen. Er hatte sich

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