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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
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der chinesischen Hand« war ausschließlich für Offiziere reserviert wegen ihrer weißen Handschuhe, die übrigens bei dem Zustand von Elend und Erniedrigung, in dem wir alle lebten, längst legendär geworden waren. Damit man einen Begriff von der raffinierten Erfindungsgabe menschlicher Bosheit bekommt, will ich nur soviel sagen, daß dem Patienten die abgezogene Haut seiner eigenen Hand um die Ohren geschlagen wurde. Ich könnte noch andere, schrecklichere Einzelheiten berichten; aber das sind Dinge für Sadisten und neugierige Gaffer. Die schlimmsten Beispiele von Brutalität haben meist nur die Wirkung, den Zuhörer noch etwas mehr zu verhärten; und da das menschliche Herz sowieso schon die Weichheit eines Steines besitzt, so halte ich es für überflüssig, mich in dieser Richtung noch weiter zu bemühen. Unsere eigenen Leute waren sicherlich nicht weniger erfinderisch, während ich selber mich in den meisten Fällen mit einem einfachen Todesurteil zu begnügen pflegte. Grausamkeit ist ein Luxus für Müßiggänger, wie Rauschgifte und seidene Hemden. Auch in der Liebe bin ich, nebenbei bemerkt, fürs klassisch Einfache.
    Außerdem ist ein Abenteurer (und das bin ich geworden), trotz aller Gefahren, denen er sich freiwillig aussetzt, oft durchaus unfähig, von Grund aus zu hassen. Vielleicht verallgemeinere ich ein ganz persönliches Versagen; jedenfalls bin ich von allen Menschen, die ich kenne, am wenigsten imstande, die Gefühle der Rachsucht oder der Liebe, die meine Mitmenschen möglicherweise in mir erwecken, mit ideologischen Reizen auszustatten. Auch habe ich mein Leben immer nur für Dinge eingesetzt, an die ich selber nicht glaubte. Für die Bolschewiken empfand ich die Feindseligkeit meiner Kaste, was sich in einer Zeit, wo die Karten noch nicht so oft und so geschickt durcheinandergebracht worden waren wie heute, von selbst verstand. Aber an dem Unglück der Weißrussen habe ich immer nur sehr mäßigen Anteil nehmen können, und das Schicksal Europas hat mir nie den Schlaf geraubt. Einmal in das baltische Räderwerk hineingeraten, begnügte ich mich damit, möglichst oft die Rolle des Zahnrades und möglichst selten die des zerquetschten Fingers zu spielen. Was hätte ein Junge auch sonst anfangen sollen, dessen Vater vor Verdun gefallen war und ihm als einziges Erbteil sein Eisernes Kreuz und einen Titel hinterlassen hatte, um dessentwillen ihn allenfalls eine Amerikanerin geheiratet hätte, sowie Schulden und eine halbverrückte Mutter, die ihre Tage damit verbrachte, die Evangelien der Buddhisten und die Gedichte Rabindranath Tagores zu lesen? Konrad wenigstens war in diesem unaufhörlich entgleisenden Leben ein Halt, eine Bindung und ein Freund. Er war Balte mit russischem Blut; ich war Preuße mit baltischem und französischem Blut; jeder von uns gehörte zwei benachbarten Nationen zugleich an. Ich hatte in ihm jene von mir selbst ebensosehr geförderte wie verdrängte Fähigkeit wiedererkannt: an nichts zu hängen und alles zu genießen und zugleich zu verachten. Aber psychologische Erklärungen verfehlen stets das Wichtigste: jenes unmittelbare Einvernehmen der Geister, der Charaktere und der Körper, inbegriffen jenes unerklärliche Stück Fleisch, das wir wohl oder übel »Herz« nennen und das bei uns beiden in einem wunderbar gleichen Takte schlug, obschon in seiner Brust etwas schwächer als in meiner. Sein Vater, der eine gewisse Sympathie für die Deutschen hatte, war in der Nähe von Dresden in einem Konzentrationslager gestorben, wo Tausende von russischen Gefangenen in Schwermut und Ungeziefer umkamen. Mein Vater hingegen, der auf unseren Namen und unsere französische Herkunft so stolz war, hatte sich in einem Schützengraben der Argonnen durch einen schwarzen Soldaten des französischen Heeres den Schädel einschlagen lassen. So viele Mißverständnisse mußten mir in Zukunft ein für allemal jede rein persönliche Überzeugung zuwider machen. Im Jahre 1915 erlebten wir den Krieg und sogar die Trauer um die Toten glücklicherweise nur in Form endloser Schulferien, durch die wir allen Haus- und Examensarbeiten, dieser doppelten Qual jedes Jungen, entgingen.
    Kratovice lag an der Grenze und in einer Art Sackgasse, wo damals, als die Kriegsdisziplin sich überall zu lockern begann, nachbarliche und verwandtschaftliche Beziehungen gelegentlich die Paßkontrolle ersetzten. Als preußische Witwe wäre meine Mutter, obschon sie Baltin und Kusine des Grafen von Reval war, von den

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