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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
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Blicke schienen mich nicht zu sehen, sonst wären mir sicher die Tränen gekommen. Sie war ihrem Bruder doch allzu ähnlich, als daß ich nicht das Gefühl gehabt hätte, ihn zweimal sterben zu sehen.
    Für gewöhnlich übernahm Michel in solchen Fällen die Rolle des Henkers. Er hatte in Kratovice jedesmal, wenn es zufällig einmal ein Stück Vieh zu schlachten gab, uns diese Tätigkeit abgenommen und setzte sie nun gewissermaßen fort. Chopin hatte bestimmt, daß Sophie als letzte erschossen werden sollte. Ich weiß bis heute nicht, ob er es aus übertriebener Strenge tat, oder ob er einem von uns Gelegenheit geben wollte, sie zu retten. Michel begann mit dem Kleinrussen, den ich als ersten verhört hatte. Sophie warf einen raschen Seitenblick auf das, was zu ihrer Linken geschah; dann wandte sie sich ab wie eine Frau, die eine obszöne Szene, die sich neben ihr abspielt, zu übersehen versucht. Vier- oder fünfmal hörte man dieses Krachen eines Schusses, das Knallen der Büchse. Wie gräßlich ein solcher Lärm war, schien ich bis dahin nicht ermessen zu haben. Plötzlich machte Sophie Michel heimlich ein gebieterisches Zeichen, so wie eine Gastgeberin in Gegenwart ihrer Gäste einem Dienstboten eine letzte Anweisung gibt. Michel trat vor, beugte den Rücken mit der gleichen bestürzten Unterwürfigkeit, mit der er sie niederknallen würde, und Sophie murmelte einige Worte, die ich nur an der Bewegung ihrer Lippen erraten konnte.
    »Gut, Fräulein!«
      Der alte Gärtner näherte sich mir und sagte mir in dem schroff-bittenden Ton eines alten verängstigten Dieners, der keinesfalls verkennt, daß man als Überbringer einer solchen Botschaft mit der Kündigung rechnen muß.
    »Sie befiehlt … Das Fräulein bittet … Sie möchte, daß Sie es sind …«
      Er hielt mir einen Revolver hin, ich nahm den meinen und ging automatisch einen Schritt vor. Während dieses so kurzen Weges blieb mir gerade soviel Zeit, daß ich mir zehnmal wiederholte, sie wolle vielleicht ein letztes Wort an mich richten, und diese Anweisung sei nur ein Vorwand, damit sie es mir leise sagen könnte. Aber ihre Lippen blieben stumm; mit einer zerstreuten Geste hatte sie begonnen, oben ihre Jacke aufzuknöpfen, als ob ich ihr den Revolver direkt aufs Herz drücken wollte. Ich muß gestehen, daß, was so selten geschah, meine Gedanken sich diesem lebendigen und warmen Körper zuwandten, der mir seit der Intimität unseres gemeinsamen Lebens genauso vertraut war wie der eines Freundes; und ich fühlte mich von einer Art absurden Schmerzes um die Kinder erfüllt, die diese Frau in die Welt hätte setzen können und die ihren Mut und ihre Augen geerbt hätten. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, die Stufen oder auch Abgründe der Zukunft zu bevölkern. Ein weiterer Schritt brachte mich Sophie so nahe, daß ich ihren Nacken hätte küssen oder ihr die Hand auf die von unmerklichen kleinen Stößen zitternde Schulter hätte legen können, aber schon sah ich von ihr nur noch die Konturen eines bereits preisgegebenen Profils. Sie atmete ein wenig zu schnell, und ich klammerte mich an den Gedanken, daß ich Konrad den erlösenden Schuß hatte geben wollen und daß dies nun dasselbe sei. Ich wandte den Kopf ab und zielte, etwa wie ein verschrecktes Kind, das in der Silvesternacht einen Knallfrosch explodieren läßt. Nach dem ersten Schuß war nur ein Teil des Gesichtes verschwunden; dies beraubte mich für immer der Möglichkeit, zu erfahren, welchen Ausdruck Sophie im Antlitz des Todes angenommen hatte. Beim zweiten Schuß war alles getan. Zunächst dachte ich, sie habe geglaubt, mir ein letztes Zeichen ihrer Liebe zu schenken, und zwar das entschiedenste von allen, als sie mich bat, das Amt des Erschießens zu übernehmen. Doch dann begriff ich, daß sie sich nur hatte rächen und mich den Qualen von Gewissensbissen aussetzen wollen. Sie hatte richtig gerechnet: manchmal verfolgen sie mich wirklich. Mit solchen Frauen endet man immer in einer Falle.

Nachwort
    Der Fangschuß , dieser unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution spielende Kurzroman, wurde 1938 in Sorrent geschrieben und einige Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht, also ungefähr zwanzig Jahre nach dem Vorfall, den er wiedergibt. Sein Thema steht uns zugleich sehr fern und sehr nah; sehr fern, weil sich unzählige Bürgerkriegsepisoden über die hier erwähnten geschichtet haben; sehr nah, weil die darin geschilderte moralische Verwirrung

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