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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
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Leben lang immer nur gezittert haben, plötzlich bekommen. Als ich mich aber endlich um ihn kümmern konnte, hatte er bereits die unsichtbare Grenze überschritten, jenseits welcher man sich nicht mehr vorm Leben fürchtet. Chopin hatte in die Wunde eines der Verbandspäckchen gestopft, mit denen wir so überaus sparsam umgingen, daß wir für weniger schwere Wunden lieber getrocknetes Moos verwendeten. Es begann Nacht zu werden. Konrad verlangte mit schwacher Stimme und mit kindlicher Hartnäckigkeit nach Licht, als ob die Dunkelheit das Schlimmste am Sterben sei. Ich zündete eine der eisernen Laternen an, wie man sie in jenem Land über den Gräbern aufzuhängen pflegt. Diese bei der klaren Nacht weithin sichtbare Lampe konnte uns leicht Gewehrschüsse auf den Hals ziehen, was mir aber, wie man sich denken kann, gleichgültig war. Er litt so sehr, daß ich mehr als einmal daran dachte, ihn zu töten; es war Feigheit, daß ich es unterließ. In wenigen Stunden sah ich, wie er sein Alter änderte und fast auch sein Jahrhundert wechselte: er sah nacheinander aus wie ein verwundeter Offizier aus den Feldzügen Karl XII., wie die liegende Grabfigur eines mittelalterlichen Ritters, wie ein beliebiger Sterbender ohne irgendwelche Kennzeichen seines Standes oder seiner Epoche, wie ein junger Bauer oder wie ein Flußschiffer der nordischen Provinzen, aus denen seine Familie herstammte. Er starb kurz vor Sonnenaufgang, kaum noch zu erkennen, fast bewußtlos durch den Rum, den Chopin und ich ihm eingeflößt hatten: Wir wechselten uns ab, ihm ein volles Glas an die Lippen zu halten und die zudringlichen Mücken von seinem Gesicht zu verscheuchen.
      Es wurde Tag; wir mußten aufbrechen. Trotzdem beharrte ich eigensinnig auf dem Wunsch, ihm eine Art Begräbnis zu verschaffen. Ich brachte es nicht über mich, ihn wie einen Hund in einer verwüsteten Ecke des Kirchhofs zu verscharren. Ich ließ Chopin bei ihm zurück und ging die Allee zwischen den Gräberreihen entlang, wobei ich im Dämmerlicht der Frühe über andere Verwundete stolperte. Ich klopfte an die Tür des Pfarrhauses am äußersten Ende des Gartens. Der Priester hatte die Nacht im Keller zugebracht, in der Befürchtung, daß die Schießerei jeden Augenblick wieder aufflammen werde. Er war ganz starr vor Entsetzen; und ich glaube, ich holte ihn mit Kolbenstößen aus seinem Versteck. Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, war er bereit, mir zu folgen, mit dem Gebetbuch in der Hand. Kaum aber begann er sein Amt auszuüben und laut zu beten, half ihm die Gnade, und er absolvierte seine kurze Predigt so feierlich, als stünde er im Chor einer Kathedrale. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, Konrad zu einem guten Ende verholfen zu haben. Vor dem Feinde gefallen und durch einen Priester mit den Sterbesakramenten versehen, hatte er ein Schicksal erfüllt, das seine Vorfahren gebilligt haben würden. Er entging den kommenden Zeiten. Mein persönlicher Kummer hat nichts zu schaffen mit diesem Urteil, das ich heute noch, nach zwanzig Jahren, unterschreibe; und auch die Zukunft wird an meiner Ansicht, daß dieser Tod ein Glück für ihn bedeutete, kaum etwas ändern.
    Dann folgt in meinen Erinnerungen eine Lücke, wenn ich von den schlechthin militärischen Dingen absehe. Ich glaube, es gibt in jedem Leben Zeiten, in denen ein Mensch wirklich existiert, und andere, da er nur ein Gemisch von Verantwortung, Ermattung und von Eitelkeit (wenn er obendrein töricht ist) darstellt. Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, las ich auf einem Strohsack in einer Scheune in den zerfledderten Memoiren des Kardinals Retz, die ich aus der Bibliothek von Kratovice mitgenommen hatte; und wenn es den Toten eigen ist, sich weder Hoffnungen noch Illusionen zu machen, so war mein Bett nicht wesentlich verschieden von jenem anderen Bett, in welchem Konrad sich bereits aufzulösen begann. Aber ich weiß wohl, daß zwischen Toten und Lebenden stets ein geheimnisvoller Unterschied bestehen wird, dessen Natur wir nicht kennen; und ebenso weiß ich, daß auch die Klügsten unter uns vom Tode nicht mehr wissen als eine alte Jungfer von der Liebe. Wenn der Tod eine Art Beförderung bedeutet, so will ich diese seltsame Rangerhöhung Konrad gewiß nicht absprechen. Sophie hatte ich vollkommen vergessen. Wie eine Frau, von der man sich auf der Straße trennt, mit wachsender Entfernung ihre Individualität verliert und schließlich nur noch eine Passantin unter vielen ist, so versanken die Gefühle, die

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