Der Fangschuss
die gleiche geblieben ist, in der wir noch immer – und mehr denn je – gefangen sind. Das Buch geht von einer tatsächlichen Begebenheit aus, und die drei Gestalten, die hier Erich, Sophie und Konrad heißen, sind im wesentlichen die gleichen, wie sie mir ein sehr guter Freund der Hauptperson beschrieben hat.
Das Geschehnis hat mich bewegt, und ich hoffe, daß es auch den Leser bewegen wird. Außerdem schien es mir, allein vom literarischen Standpunkt aus, alle Elemente des tragischen Stils zu enthalten und dadurch ausgezeichnet in den Rahmen der traditionellen französischen Erzählung zu passen, die, glaube ich, gewisse Charakterzüge der Tragödie bewahrt hat: Die Einheit von Zeit, Ort und – wie es Corneille einmal treffend ausgedrückt hat – Gefahr; die auf zwei oder drei Gestalten begrenzte Handlung, von denen eine zumindest so klarsichtig ist, daß sie versucht, sich selbst zu erkennen und zu richten; schließlich die unvermeidliche tragische Auflösung, zu der die Leidenschaft immer neigt, die jedoch im Alltagsleben gemeinere oder weniger sichtbare Formen annimmt. Die Kulisse selbst, dieser finstere Winkel in dem durch Revolution und Krieg abgeschnittenen Baltikum, schien aus analogen Gründen wie jene, die Racine in seinem Vorwort zu Bajazet überzeugend darlegt, den Regeln des tragischen Spiels zu entsprechen, indem sie Sophies und Erichs Abenteuer von den üblichen Zufälligkeiten loslöst und die Aktualität von gestern in den Raum zurückweichen läßt, was fast einem Rückzug in die Zeit gleichkommt.
Beim Schreiben dieses Buches hatte ich nicht die Absicht, ein Milieu oder eine Epoche neu erstehen zu lassen, jedenfalls nicht in erster Linie. Aber die psychologische Wahrheit, die wir suchen, geht zu weit über das Individuelle und Besondere hinaus, als daß wir wie unsere klassischen Vorbilder mit gutem Gewissen die äußeren Realitäten einfach übersehen oder verschweigen dürften, die ein Erlebnis bedingen. Der Ort, den ich Kratovice genannt habe, konnte nicht nur einen Vorhof der Tragödie, noch die blutigen Episoden aus dem Bürgerkrieg nur den rotgetönten Hintergrund für eine Liebesgeschichte bilden. Sie hatten bei diesen Gestalten eine Art Dauerzustand der Verzweiflung geschaffen, ohne den ihre Taten und Gesten unverständlich blieben. Dieser Mann und diese Frau, die ich nur aus einer kurzen Zusammenfassung ihrer Geschichte kannte, wurden erst glaubhaft in der ihnen angemessenen Beleuchtung und, soweit dies möglich ist, in der historischen Situation. Daraus folgt, daß dieser Stoff, den ich wählte, weil er mir einen fast reinen Konflikt zwischen Leidenschaften und Willensanstrengungen bot, schließlich dazu zwang, Generalstabskarten zu lesen, Einzelheiten anderer Augenzeugenberichte zu sammeln, alte Illustrierten durchzublättern, um von den undurchsichtigen militärischen Operationen an der Grenze eines verlorenen Landes wenigstens ein schwaches Echo und einen schwachen Abglanz zu finden, insofern sie damals bis nach Westeuropa gedrungen waren. Später versicherten mir Männer, die an eben diesen Kriegen im Baltikum teilgenommen hatten, bei zwei oder drei Gelegenheiten spontan, daß Der Fangschuß sich mit ihren Erinnerungen decke.
Diese Geschichte ist in der Ich-Form geschrieben und der Hauptperson in den Mund gelegt – ein Verfahren, dessen ich mich oft bedient habe, weil es den Standpunkt des Autors oder zumindest seine Kommentare aus dem Buch entfernt und weil so gezeigt werden kann, wie ein Mensch seinem Leben gegenübersteht und sich mehr oder weniger aufrichtig darum bemüht, es zu ergründen, ja sich erst einmal überhaupt daran zu erinnern. Doch wir wollen dabei nicht vergessen, daß, wie immer man es auch anstellen mag, ein langes Bekenntnis, das die Hauptperson eines Romans gefügigen und stummen Zuhörern macht, eine literarische Konvention ist: in Die Kreutzersonate oder Der Immoralist schildert sich ein Held mit peinlicher Genauigkeit und diskursiver Logik; das ist im wirklichen Leben nicht der Fall; echte Bekenntnisse sind im allgemeinen bruchstückhafter oder wiederholungsreicher, verworrener oder verschwommener. Diese Vorbehalte gelten natürlich auch für die Geschichte, die der Held aus dem Fangschuß kaum zuhörenden Kameraden in einem Wartesaal erzählt. Hat man jedoch die anfängliche Konvention hingenommen, so hängt es von dem Verfasser einer solchen Erzählung ab, wie und ob er darin einen ganzen Menschen heraufbeschwört – mit seinen Vorzügen und
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