Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
jemals selbst Unterricht zu erteilen.
Doch wie sich herausstellte, verfügte er über eine besondere Begabung im Umgang mit Kindern. Bei ihm wurde sonntags weder endlos gebetet, noch hielt er der Klasse Predigten oder ließ sie religiöse Lieder singen… Nein, er erzählte einfach Geschichten aus der Bibel und hatte damit von vornherein durchschlagenden Erfolg – was überwiegend seinem unkonventionellen Ansatz zu verdanken war. Beispielsweise speiste bei
ihm
Jesus die Massen nicht etwa mit zwei Fischen und fünf Laiben Brot. Stattdessen berichtete Hobbs, wie der Sohn Gottes mit dem Bogen auf die Jagd gegangen sei, aus hundert Metern Entfernung einen Hirsch geschossen und diesen dann eigenhändig auf dem Marktplatz ausgeweidet und zubereitet habe, um die Menschen zu ernähren. (Zur Veranschaulichung brachte Hobbs seinen Clearwater MX Flex Kompositbogen in den Klassenraum mit und versenkte zur Begeisterung der Kinder einen Pfeil mit gehärteter Stahlspitze acht Zentimeter tief im Mauerwerk.)
Im Anschluss an eine jener Unterrichtsstunden suchte er nun Elma’s Diner auf. Die Kellnerin kam zu ihm. »Hallo, Hobbs. Ein Stück Kuchen?«
»Nein, lieber ein Bier und ein Käseomelett. Mit extra viel Käse. Ach, hat jemand für mich…«
Noch bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, reichte sie ihm bereits ein Stück Papier.
Ruf mich an. J. B.
, lautete die Nachricht.
»War das Jeddy?«, fragte sie. »Es hörte sich am Telefon so an. Seit die Typen von der Staatspolizei hier waren, hab ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Warte mit der Bestellung noch eine Minute«, sagte er lediglich und ignorierte die Frage. Während er zu dem Münzfernsprecher ging und in der Hosentasche nach Kleingeld kramte, dachte er an das Mittagessen im Riverside Inn zurück, an dem er vor zwei Wochen drüben in Bedford Junction teilgenommen hatte. Außer ihm waren aus Canton Falls noch Frank Stemple und Jeddy Barnes dabei gewesen, ferner ein Mann namens Erick Weir, den Barnes später nur noch den Zaubermann genannt hatte, weil er tatsächlich ein gelernter Bühnenzauberer war.
Bei Hobbs’ Ankunft hatte Barnes ihm sehr geschmeichelt, denn er war aufgestanden und hatte zu Weir gesagt: »Und hier, Sir, darf ich Ihnen den besten Gewehr- und Bogenschützen des Bezirks vorstellen? Außerdem ist er ein verdammt helles Kerlchen.«
Hobbs hatte sich stolz, aber auch nervös (denn bislang wäre ihm nicht mal im Traum eingefallen, hierhin essen zu gehen) in dem eleganten Restaurant an den vornehm gedeckten Tisch gesetzt, mit der Gabel im Tagesgericht herumgestochert und zugehört, als Barnes und Stemple erzählten, wie sie Weir kennen gelernt hatten. Der Mann war so eine Art Söldner. Auf diesem Gebiet wusste Hobbs Bescheid, denn er hatte
Soldier of Fortune
abonniert, das weltweit anerkannte Fachblatt zum Thema. Ihm fielen die Narben am Hals des Mannes und die deformierten Finger auf. Wodurch mochte der Fremde sich solche Verletzungen zugezogen haben? Etwa durch Napalm?
Anfangs hatte Barnes natürlich mit einer Falle gerechnet und daher einem Treffen mit Weir eher zögerlich gegenübergestanden. Doch der Zaubermann hatte einfach nur erwidert, er solle an einem bestimmten Tag die Abendnachrichten einschalten. Der erste Bericht drehte sich um den Mord an einem mexikanischen Gärtner – einem illegalen Einwanderer –, der in einem Nachbarort für eine reiche Familie gearbeitet hatte. Weir brachte Barnes die Brieftasche des Toten. Eine Trophäe, fast wie das Geweih eines Rehbocks.
Danach nahm Weir kein Blatt vor den Mund und erklärte offen, er habe sich den Mexikaner ausgesucht, weil er wisse, was Barnes von Immigranten halte. Er persönlich teile diese extreme Überzeugung nicht – er wolle mit seinem seltenen Talent lediglich Geld verdienen. Damit hatte keiner von ihnen ein Problem. Beim Mittagessen erläuterte Zaubermann Weir seinen Plan für Charles Grady, dann gab er ihnen die Hand und ging. Vor ein paar Tagen schickten Barnes und Stemple den Schlappschwanz und Kleinmädchenfreund Reverend Swensen nach New York City und erteilten ihm den Auftrag, Grady am Samstagabend zu erschießen. Und genau wie vorhergesehen, setzte er die Sache in den Sand.
Hobbs sollte sich »auf Abruf bereithalten«, hatte Mr. Weir gesagt. »Für den Fall, dass er gebraucht wird.«
Und dieser Fall war offenbar nun eingetreten. Hobbs wählte die Nummer von Barnes’ Mobiltelefon, das auf einen anderen Namen angemeldet war.
»Ja?«, meldete sich eine schroffe Stimme.
»Ich
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