Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
betrachtete sie abermals von Kopf bis Fuß. »Ein Mädchen als Illusionistin. Und Sie sind was? Eine Beraterin oder so? Vielleicht komme ich nach meiner Freilassung mal vorbei. Vielleicht lasse ich Sie verschwinden.«
»Eine Freilassung wird es für Sie in diesem Leben nicht mehr geben, Weir«, stellte Sachs fest.
Das keuchende Lachen des Hexers ließ alle erschaudern. »Wie wär’s dann mit einer Flucht? Mauern sind im Grunde bloß eine Illusion.«
»Ich glaube, von diesem Gedanken werden Sie sich ebenfalls verabschieden müssen«, fügte Sellitto hinzu.
»Nun, ich habe Ihre Frage nach dem ›Wie‹ beantwortet, Weir. Oder wie auch immer Sie sich nennen mögen«, sagte Rhyme. »Was halten Sie davon, mir etwas über das ›Warum‹ zu erzählen? Wir dachten, es ginge um Rache an Kadesky, aber dann stellte sich heraus, dass Sie hinter Grady her sind. Was sind Sie? So eine Art Auftragsmörder in Illusionistengestalt?«
»Rache?«, fragte Weir aufbrausend. »Wofür, zum Teufel, soll Rache denn gut sein? Nimmt sie die Narben weg und bringt meine Lunge in Ordnung? Bekomme ich dadurch meine Frau zurück?… Sie begreifen nicht das Geringste! Das Einzige, was mir
jemals
etwas bedeutet hat, ist der Auftritt. Die Illusion, die Zauberkunst. Mein Mentor hat mich mein ganzes Leben lang für diesen Beruf ausgebildet. Das Feuer hat es mir weggenommen. Ich bin nicht mehr kräftig genug, um aufzutreten. Meine Hand ist entstellt. Meine Stimme ist ruiniert. Wer würde meine Vorstellungen besuchen wollen? Ich kann die eine Sache nicht mehr tun, für die Gott mir Talent geschenkt hat. Wenn die einzige Möglichkeit für einen Auftritt darin besteht, das Gesetz zu brechen, dann ist das mein Weg.«
Phantom-der-Oper-Syndrom…
Er musterte ein weiteres Mal Rhymes Körper. »Wie haben
Sie
sich nach Ihrem Unfall bei dem Gedanken gefühlt, dass Sie niemals mehr Polizist sein würden?«
Rhyme schwieg, doch die Worte des Mörders trafen ins Schwarze. Was hatte er gefühlt? Die gleiche Wut, die auch Erick Weir antrieb, ja. Und es stimmte, dass nach dem Unfall seine Auffassungen über Gut und Böse vollständig ins Wanken geraten waren. Wieso nicht ein Krimineller sein?, hatte er mit einer Mischung aus wildem Zorn und Niedergeschlagenheit überlegt. Ich kann Spuren besser als jeder andere Mensch auf Erden ausfindig machen. Das bedeutet, ich kann sie mit ebensolcher Meisterschaft manipulieren. Ich könnte das perfekte Verbrechen begehen…
Dank Leuten wie Terry Dobyns und anderen Ärzten sowie den Polizeikollegen und dank Rhymes Persönlichkeit hatten diese Überlegungen sich am Ende zum Glück wieder verflüchtigt. Doch, ja, er wusste genau, wovon Weir sprach. Wenngleich er sogar in den trostlosesten und blindwütigsten Momenten niemals daran gedacht hatte, jemandem das Leben zu nehmen – außer natürlich sich selbst.
»Demnach haben Sie Ihre Talente wie ein Söldner verkauft?«
Weir schien zu erkennen, dass er kurz die Kontrolle verloren und zu viel preisgegeben hatte. Er lehnte es ab, sich weiter zu äußern.
Sachs verlor die Beherrschung, ging zur Tafel, riss einige Fotos der ersten beiden Opfer herunter und hielt sie Weir direkt vor das Gesicht. »Sie haben diese Leute nur zur Ablenkung ermordet?«, tobte sie. »So wenig bedeutet Ihnen ein Menschenleben?«
Weir hielt ihrem Blick gleichgültig stand. Dann sah er sich um und lachte. »Sie glauben ernsthaft, Sie könnten mich auf Dauer einsperren? Wissen Sie, dass Harry Houdini sich einmal nackt bis auf die Unterhose im Todestrakt von Washington, D. C., hat einschließen lassen, nur so als Herausforderung? Er entkam dermaßen schnell aus seiner Zelle, dass ihm Zeit genug blieb,
alle
Türen des Zellenblocks zu öffnen und die Insassen die Plätze tauschen zu lassen – und zwar noch bevor die Schiedsrichter der Aktion aus der Mittagspause zurückgekommen waren.«
»Mag sein, aber das ist lange her«, sagte Sellitto. »Heutzutage sind die Sicherheitsvorkehrungen ein bisschen höher entwickelt.« Er wandte sich an Rhyme und Sachs. »Ich nehme ihn jetzt mit in die Stadt. Mal sehen, ob er uns nicht doch noch etwas mitzuteilen hat.«
Er wollte zur Tür gehen, doch Rhyme hielt ihn zurück. »Warte mal.« Sein Blick war auf die Wandtafel gerichtet.
»Was ist denn?«, fragte Sellitto.
»Nachdem Larry Burke ihn verhaftet hatte, ist er die Handschellen wieder losgeworden.«
»Stimmt.«
»Wir haben Speichelspuren gefunden, weißt du noch? Sieh nach, ob er einen Dietrich oder Schlüssel
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