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Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man

Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man

Titel: Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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zahlreiche Schrammen und Schlieren auf, und auf den durchhängenden Bodendielen klebten Dutzende kleiner Markierungen, mit denen man beim Training die verschiedenen Positionen einer Nummer bezeichnete. Im Hintergrund hing lediglich ein schäbiges burgunderfarbenes Tuch. Und die gesamte Bühne war winzig: ein drei mal vier Meter messendes Rechteck.
    Dennoch – für Kara stellte dieser Ort heute die Carnegie Hall und das MGM Grand zugleich dar, und sie war für ihr Publikum zu allem bereit.
    Genau wie Varietékünstler oder Taschenspieler hängten die meisten Illusionisten einfach eine Reihe von Nummern aneinander. Dabei mochte die Abfolge sorgfältig überlegt sein und auf ein großes Finale zusteuern, doch Kara kam sich bei solchen Shows vor, als würde sie ein Feuerwerk betrachten – jede Explosion war mehr oder weniger spektakulär, doch insgesamt ohne emotionale Tiefe, weil es keinen wirklichen Zusammenhang und kein zugrunde liegendes Thema gab. Die Auftritte eines Illusionisten sollten eine Geschichte erzählen, die Tricks alle miteinander verknüpft sein und aufeinander aufbauen, wobei eine oder mehrere der früheren Nummern am Ende erneut auftauchten, damit das Publikum in den Genuss eines herrlichen Aha-Erlebnisses kam und hoffentlich staunend zurückblieb.
    Einige weitere Zuschauer betraten das Theater. Kara fragte sich, ob heute wohl viele Leute kommen würden, wenngleich es ihr letztlich egal war. Ihr gefiel die Geschichte, die man sich über Robert-Houdin erzählte. Als der eines Abends auf die Bühne trat, saßen nur drei Personen im Saal. Er gab genau die gleiche Vorstellung wie vor einem vollen Haus – nur dass das Finale ein wenig anders ausfiel: Er lud das Publikum hinterher zu sich nach Hause zum Abendessen ein.
    Was den heutigen Tag anging, war Kara durchaus zuversichtlich – Mr. Balzac ließ sie stets wochenlang üben, sogar für diese kleinen Shows. Und nun, während der letzten paar Minuten vor dem Auftritt, dachte sie nicht mehr über die einzelnen Tricks nach, sondern beobachtete das Publikum und freute sich über diesen flüchtigen Moment der Ausgeglichenheit. Eigentlich hatte sie gar kein Recht, sich so wohl zu fühlen. Es gab unzählige Gründe, sich Gedanken zu machen: den sich verschlechternden Zustand ihrer Mutter. Die wachsende Geldnot. Ihre laut Mr. Balzac zu langsamen Fortschritte. Der Brunch-im-Bett-Kerl, der vor drei Wochen weggegangen war und versprochen hatte, sie anzurufen. Auf jeden Fall. Ehrlich.
    Doch keine der drei Nummern, weder
Der verschwundene Liebhaber
noch
Das verpuffende Geld
oder
Die dahinsiechende Mutter,
konnten ihr hier etwas anhaben.
    Nicht auf der Bühne. Dort kam es für sie nur auf eines an: einen ganz bestimmten Ausdruck auf den Gesichtern der Zuschauer erscheinen zu lassen. Kara konnte ihn deutlich vor sich sehen: der Mund zu einem leichten Lächeln verzogen, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen und zwischen den Augenbrauen diese kleine Falte, die verriet, was alle dachten und was das Ziel einer jeden Illusionistenshow sein musste: Wie
machen
die das bloß?
    Bei den Taschenspielern gab es gewisse Gesten, die man als Nehmer und Ersetzer bezeichnete. Obwohl der Künstler in Wirklichkeit mit geschickter Handbewegung einen Gegenstand
nahm
und im selben Moment durch einen anderen
ersetzte
, hatten die Zuschauer den Eindruck, der besagte Gegenstand würde sich in etwas anderes verwandeln. Und mit ebendiesen Begriffen ließ sich auch Karas Berufsphilosophie umschreiben: Sie nahm die Traurigkeit, Langeweile oder Verärgerung ihres Publikums und ersetzte sie durch Glück, Faszination und Heiterkeit, so dass die Leute Freude im Herzen verspürten, wie kurzlebig diese auch immer sein mochte.
    Gleich würde es losgehen. Sie spähte abermals durch den Vorhangspalt.
    Mittlerweile waren die meisten Plätze besetzt. Kara war überrascht. An Schönwettertagen wie heute fiel der Besucherandrang in der Regel eher spärlich aus. Es freute sie, Jaynene aus dem Pflegeheim zu sehen, deren massige Gestalt für einen Augenblick den Durchgang ausfüllte. Einige andere Schwestern aus dem Stuyvesant Manor begleiteten sie. Sie kamen nach vorn und suchten sich freie Stühle. Ein paar von Karas Freunden waren ebenfalls da, sowohl aus der Redaktion als auch aus dem Haus an der Greenwich Street, in dem sie wohnte.
    Dann wurde um kurz nach sechzehn Uhr der trennende Vorhang weit zurückgeschlagen, und ein letzter Zuschauer traf ein – jemand, mit dessen Besuch sie nie im Leben

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