Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
gerechnet hätte.
»Alles breit genug hier«, merkte Lincoln Rhyme trocken an und fuhr mit seinem glänzenden Storm Arrow im Smoke & Mirrors zu einem Fleck auf halber Strecke des Mittelgangs. »Kein Verstoß gegen das Behindertenschutzgesetz.«
Eine Stunde zuvor hatte er Sachs und Thom mit dem Vorschlag überrascht, sie sollten doch gemeinsam Karas Show besuchen. Er verfügte für derlei Ausflüge über eine Großraumlimousine, die von der Firma Rollx rollstuhlgerecht umgebaut und mit einer Rampe versehen worden war.
»Obwohl es ein Jammer ist, einen so schönen Frühlingsnachmittag in irgendeinem Laden zu vergeuden«, hatte er hinzugefügt.
Angesichts der ungläubigen Blicke – sogar vor dem Unfall hatte er kaum jemals einen schönen Frühlingsnachmittag unter freiem Himmel verbracht – lautete sein Kommentar: »Schon gut, es war nur ein Scherz. Würdest du bitte den Wagen holen, Thom?«
»Ich fasse es nicht, er hat ›bitte‹ gesagt«, hatte der Betreuer daraufhin erwidert.
Als Rhyme sich nun in dem ärmlichen Theater umsah, bemerkte er eine korpulente Farbige, die ihn musterte. Zögernd stand sie auf, kam zu ihnen herüber, setzte sich neben Sachs, gab ihr die Hand und nickte Rhyme zu. Dann fragte sie ihn, ob er und Sachs die Polizeibeamten seien, von denen Kara ihr erzählt habe. Er bejahte, und sie stellten einander namentlich vor.
Die Frau hieß Jaynene und sagte, sie arbeite als Krankenschwester in der Betreuungseinrichtung für Senioren, in der Karas Mutter untergebracht sei.
Bei diesen Worten warf Rhyme ihr einen sarkastischen Blick zu, der ihr nicht entging.
»Hoppla, habe ich das wirklich gesagt?«, fügte sie hinzu. »Ich meinte ›Altenpflegeheim‹.«
»Ich bin Absolvent eines ›ZLUF‹«, sagte der Kriminalist.
Die Frau runzelte die Stirn und schüttelte schließlich den Kopf. »Die Abkürzung kenne ich noch nicht.«
»›Zentrum zur Linderung von Unfallfolgen‹«, erklärte Thom.
»Ich hab’s immer die Krüppelpension genannt«, sagte Rhyme.
»Aber er provoziert gern«, warf Thom ein.
»Ich habe früher mit Rückenmarkspatienten gearbeitet. Die widerspenstigen Kandidaten waren uns immer am liebsten. Sorgen gemacht haben uns die Ruhigen und Fröhlichen.«
Weil die nämlich Freunde hatten, die ihnen hundert Schlaftabletten in ein Glas Wasser rühren würden, dachte Rhyme. Oder die, falls sie noch eine Hand bewegen konnten, das Sicherheitsventil ihres Kochherds herausschraubten und das Gas aufdrehten.
Vier-Brenner-Tod hieß das in Fachkreisen.
»Sind Sie ein C4?«, fragte Jaynene.
»Genau.«
»Sie kommen ohne Beatmungsgerät aus. Das ist gut.«
»Ist Karas Mutter hier?«, fragte Sachs und schaute sich um.
Irritiert hielt Jaynene kurz inne. »Äh, nein«, antwortete sie dann.
»Besucht sie denn niemals eine der Vorstellungen?«
»Karas Mutter bekommt vom Beruf ihrer Tochter nicht allzu viel mit«, sagte die Frau vorsichtig.
»Kara hat mir erzählt, sie sei krank«, sagte Rhyme. »Geht es ihr besser?«
»Ja, ein wenig«, sagte die Frau.
Rhyme spürte, dass mehr dahinter steckte, aber der Tonfall der Krankenschwester verriet ihm, dass es ihr nicht zustand, solche vertraulichen Dinge mit Fremden zu erörtern.
Dann wurde das Licht gedämpft, und die Gespräche verstummten.
Ein weißhaariger Mann betrat die Bühne. Trotz seines Alters und der Anzeichen für einen ungesunden Lebensstil – eine rote Trinkernase und ein Bart mit Nikotinflecken –, waren seine Augen lebhaft und seine Haltung kerzengerade. Vom ersten Moment an verströmte er die Aura eines erfahrenen Bühnenkünstlers. Er stand neben dem einzigen Requisit, das es dort gab – dem aus Holz nachgebildeten Abschnitt einer römischen Säule. Die Umgebung mochte heruntergekommen wirken, aber der Mann trug einen maßgeschneiderten Anzug, als gehöre es zu seinen Grundsätzen, für das Publikum stets so gut wie möglich auszusehen.
Ah, folgerte Rhyme, der berüchtigte Mentor, David Balzac. Der Mann stellte sich nicht vor, sondern ließ den Blick über die Zuschauer schweifen und etwas länger bei Rhyme verweilen als bei den meisten anderen. Was unterdessen in seinem Kopf vorging, blieb jedoch sein Geheimnis, und er sah wieder weg. »Meine Damen und Herren, es freut mich, Ihnen heute eine meiner viel versprechendsten Schülerinnen präsentieren zu dürfen. Kara geht inzwischen seit mehr als einem Jahr bei mir in die Lehre. Sie wird Ihnen ein paar der eher esoterischen Illusionen aus der Geschichte unserer Profession
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