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Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man

Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man

Titel: Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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einem stummen Vortrag.
    Lassen Sie mich Ihnen einen der Grundzüge des Illusionistenhandwerks erläutern.
    Um die Leute wirklich an der Nase herumzuführen, reicht es nicht aus, sie
während
der Illusion zu täuschen. Wenn das menschliche Gehirn nämlich mit einem Phänomen konfrontiert wird, das der Logik trotzt, spielt es die Szene im Nachhinein immer wieder durch, um das Geschehene zu begreifen. Wir Illusionisten bezeichnen dies als »Rekonstruktion«, und sofern wir unsere Nummer nicht clever genug vorbereiten, wird ein intelligentes und argwöhnisches Publikum nur kurz getäuscht sein und nach dem Ende des Tricks unsere Methode durchschauen.
    Wie also gelangen wir trotzdem zum Erfolg?
    Wir bedienen uns einer möglichst unwahrscheinlichen Methode – einer lächerlich simplen oder einer überwältigend komplexen.
    Ein Beispiel: Ein berühmter Illusionist scheint eine komplette Pfauenfeder mitten durch ein Taschentuch zu schieben. Die Zuschauer können sich kaum vorstellen, was für einen Taschenspielertrick er wohl anwenden mag, damit es so aussieht, als würde die Feder den Stoff wirklich durchdringen. Und die zugrunde liegende Methode? Die Feder durchdringt den Stoff
tatsächlich
. Das Taschentuch hat ein Loch! Das Publikum zieht diese Erklärung anfangs in Betracht, kommt dann aber stets zu dem Schluss, dass dies bei einem so großartigen Künstler viel zu einfach wäre, und glaubt lieber, es handle sich um ein weitaus komplizierteres Verfahren.
    Ein anderes Beispiel: Ein Illusionist war mit einigen Freunden zum Abendessen in einem Restaurant verabredet und wurde dort gebeten, ihnen einige Tricks vorzuführen. Er sträubte sich zunächst, gab dann jedoch nach. Er nahm eine Tischdecke, hielt sie vor einen der Nebentische, an dem ein Liebespaar saß, und ließ binnen einer Sekunde sowohl den Tisch als auch die beiden Leute verschwinden. Die Freunde waren verblüfft. Wie hatte er das nur gemacht? Sie kamen nie auf den Gedanken, dass er lange im Voraus damit gerechnet hatte, um eine Kostprobe seines Könnens gebeten zu werden. Also war er zu dem Restaurantchef gegangen und hatte mit ihm abgesprochen, dass dort an jenem Abend ein vorbereiteter Klapptisch stehen würde. Das vermeintliche Liebespaar waren zwei bezahlte Schauspieler. Noch während der Illusionist die Tischdecke hochhielt, machten sie sich samt Tisch aus dem Staub.
    Als die Freunde beim Essen rekonstruierten, was sie soeben gesehen hatten, wurde die tatsächliche Erklärung als viel zu unwahrscheinlich für einen so offensichtlich improvisierten Auftritt abgetan.
    Und genau das Gleiche gilt für die Nummer, deren Zeugen Sie gerade geworden sind. Ich nenne sie
Der erschossene Häftling.
    Rekonstruktion. Viele Illusionisten ließen diesen psychologischen Prozess außer Acht. Malerick niemals. Und bei der Planung der Flucht aus dem Untersuchungsgefängnis hatte er besonders sorgfältig darüber nachgedacht. Die Beamten, die ihn den Korridor entlang zum Zellentrakt eskortiert hatten, meinten Folgendes gesehen zu haben: Ein Häftling befreite sich von den Fesseln, griff nach einer Waffe, und sein Leben endete vor ihren Augen durch einen Pistolenschuss.
    Alle waren schockiert, entsetzt, von Grauen gepackt.
    Doch sogar in solchen Krisenmomenten tat der Verstand, was er tun musste, und noch bevor der Pulverdampf sich verzogen hatte, analysierten die Beamten bereits die Ereignisse und wogen die verschiedenen Optionen und Handlungsweisen ab. Wie jedes Publikum begannen sie mit einer Rekonstruktion, und da sie wussten, dass Erick Weir ein begabter Illusionist war, fragten sie sich zweifellos, ob alles womöglich nur vorgetäuscht sein könnte.
    Doch ihre Ohren hatten gehört, wie eine echte Waffe eine echte Kugel abfeuerte.
    Und ihre Augen hatten gesehen, wie ein Kopf bei dem Einschlag explodierte und wie unmittelbar darauf ein schlaffer Körper in der Pose des Todes mit glasigem Blick dalag, umgeben von Blut, Hirn und Knochensplittern.
    Die Rekonstruktion führte daher zu einer Schlussfolgerung: Es wäre viel zu unwahrscheinlich, dass der Mann eine dermaßen detaillierte Täuschung hätte vorbereiten können. Nachdem nun alle von seinem Tod überzeugt waren, ließen sie ihn ohne Fesseln allein im Korridor liegen und rannten hinaus, um hektisch diverse Funkrufe und Telefonate zu erledigen.
    Und meine Methode, verehrtes Publikum?
    Als er mit dem angeblichen Krampf am Boden lag, löste Malerick das Pflaster auf seiner Hüfte, holte den Generalschlüssel für

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