Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
erwiderte sie verärgert und wies auf den Korridor. »Die Gerichtsmedizin hat die Leiche schon abgeholt. Wie konnte das passieren?«
Der junge Mann mit dem Bürstenschnitt runzelte die Stirn und sah seinen Partner an. »Äh, also, der Doktor steht draußen. Er war der Typ, mit dem wir geredet haben, als du angekommen bist. Der gerade die Tauben gefüttert hat. Er wartet darauf, dass wir fertig werden und er den Toten mitnehmen kann.«
»Was ist los?«, knurrte Rhyme. »Ich höre Stimmen, Sachs.«
»Das Team der Gerichtsmedizin wartet draußen vor dem Gebäude, Rhyme. Anscheinend haben sie den Toten noch
nicht
abgeholt. Was…«
»O mein Gott. Nein!«
Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. »Rhyme, du glaubst doch nicht…?«
»Was siehst du, Sachs?«, schnauzte er sie an. »Wie sehen die Blutspritzer aus?«
Sie lief zum Schauplatz des Kampfes und musterte die Blutflecke an der Wand. »O nein. Das sieht nicht nach den üblichen Folgen einer Schusswunde aus, Rhyme.«
»Gibt’s Hirnmasse und Knochen?«
»Ja, da klebt graues Zeug, aber es sieht ebenfalls nicht ganz richtig aus. Und ein paar Knochensplitter. Allerdings ziemlich wenige für einen Schuss aus nächster Nähe.«
»Unterzieh das Blut einem Schnelltest. Der wird uns erst mal weiterhelfen.«
Sie lief zurück zur Tür.
»Was ist denn…?«, setzte einer der Techniker an, verstummte jedoch wieder, als Amelia hektisch in den Koffern zu wühlen begann.
Sachs schnappte sich das katalytische Testset, kehrte in den Gang zurück und nahm eine Probe von der Wand. Sie fügte Phenolphthalein hinzu und erhielt gleich darauf das Ergebnis. »Ich weiß nicht, was das ist, aber es ist definitiv kein Blut.« Sie betrachtete die rötlichen Schmierspuren auf dem Boden. Die wiederum sahen echt aus. Amelia testete sie und bekam ein positives Resultat. Dann entdeckte sie in einer Ecke die blutige Klinge eines Rasiermessers. »Herrje, Rhyme, er hat die Schießerei inszeniert. Danach hat er sich selbst eine Schnittwunde zugefügt und die Wachen getäuscht.«
»Gib Alarm.«
»Es ist ein Fluchtversuch«, schrie Sachs. »Schließt alle Ausgänge!«
Der Detective eilte herbei und starrte den Schauplatz an. Linda Welles gesellte sich mit großen Augen zu ihm. Die spontane Erleichterung darüber, nun doch nicht an dem Tod eines Menschen beteiligt gewesen zu sein, schwand schnell, als ihr klar wurde, welche weitaus schlimmeren Konsequenzen damit verbunden sein konnten. »Nein! Er war hier. Seine Augen waren offen. Er sah tot aus.« Ihre Stimme war schrill und überschlug sich fast. »Ich meine, sein Kopf… da war überall Blut. Ich konnte… ich konnte die Wunde sehen!«
Die
Illusion
einer Wunde, dachte Sachs verbittert.
»Die Posten an allen Ausgängen wurden verständigt«, rief der Detective. »Aber, meine Güte, das hier ist kein Hochsicherheitskorridor. Nachdem wir die Türen geschlossen hatten, konnte er einfach aufstehen und sonst wohin abhauen. Vermutlich klaut er gerade ein Auto oder sitzt in der U-Bahn nach Queens.«
Sachs erteilte einige Anweisungen. Welchen Dienstrang der Detective auch immer haben mochte, die geglückte Flucht hatte ihn so durcheinander gebracht, dass er Amelias Autorität nicht in Frage stellte. »Geben Sie sofort eine Fahndungsmeldung raus«, sagte sie. »An alle Dienststellen der Stadt und auch an die Bundesbehörden. Vergessen Sie die öffentlichen Verkehrsbetriebe nicht. Der Mann heißt Erick Weir, ein Weißer, Anfang fünfzig. Er wurde hier vorhin fotografiert.«
»Was für Klamotten trägt er?«, wandte der Detective sich an Welles und ihren Partner, die sich angestrengt zu erinnern versuchten und ihm dann eine ungefähre Beschreibung lieferten.
Das dürfte jetzt kaum noch eine Rolle spielen, dachte Sachs. Bestimmt hatte der Killer sich längst umgezogen. Sie schaute die vier halbdunklen Korridore hinunter, die sie von hier aus sehen konnte, und registrierte die Silhouetten einiger Dutzend Leute. Aufseher, Reinigungspersonal, Cops…
Vielleicht auch der Hexer in einer seiner Verkleidungen.
Doch vorerst überließ Sachs die Fahndung den anderen und wandte sich wieder ihrem Aufgabengebiet zu: dem Tatort, dessen Untersuchung zunächst wie eine Formsache ausgesehen hatte und nun zu einer Angelegenheit von Leben und Tod geworden war.
…Siebenunddreißig
Malerick arbeitete sich vorsichtig durch das Kellergeschoss des Untersuchungsgefängnisses voran, ließ die Flucht noch einmal Revue passieren und bedachte sein verehrtes Publikum mit
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