Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
die Tasche ihres Uniformhemds, wo der besagte Schlüssel sich vermutlich befand. »Er hatte einen Dietrich oder so an der Hüfte.«
»In der Hosentasche?«, fragte Sachs stirnrunzelnd und dachte daran, wie sorgfältig sie den Mann durchsucht hatten.
»Nein, an seiner
Hüfte
. Sie werden es selbst sehen.« Sie nickte in Richtung des Korridors. »Er hat einen Einschnitt in der Haut. Unter einem Pflaster. Alles ging so schnell.«
Sachs nahm an, dass er sich einen Schnitt zugefügt und dadurch ein kleines Versteck geschaffen hatte. Ein ekliger Gedanke.
»Dann hat er meine Waffe gepackt, und wir haben darum gekämpft. Sie ist einfach losgegangen. Ich wollte nicht abdrücken. Ehrlich, ich wollte es nicht. Aber… ich hab versucht, die Kontrolle zu behalten, und ich hab versagt. Sie ist einfach losgegangen.«
Kontrolle… versagt
. Sie versuchte offenbar, mit ihrem Schuldgefühl fertig zu werden. Dabei spielte es keine Rolle, dass der Tote ein Mörder war, sie sich in Lebensgefahr befunden hatte und schon ein Dutzend anderer Polizisten auf diesen Mann hereingefallen waren; nein, es ging um den Eindruck persönlicher Unzulänglichkeit. Die Frauen beim NYPD mussten hohen Maßstäben genügen, und jeder Fehler wog wesentlich schwerer als bei einem Mann.
»
Wir
haben ihn festgenommen und durchsucht«, sagte Sachs sanft. »Und wir haben den Schlüssel ebenfalls übersehen.«
»Ja«, murmelte Welles. »Aber es wird zur Sprache kommen.«
Vor der Untersuchungskommission, meinte sie. Und ja, sie hatte Recht.
Nun, Sachs würde sich bei der Tatortarbeit ganz besondere Mühe geben, um diese Kollegin so gut wie möglich zu unterstützen.
Welles berührte vorsichtig ihre Nase. »Au, tut das weh.« Ihr liefen Tränen über die Wangen. »Was werden meine Kinder sagen? Sie fragen mich immer, ob mein Job gefährlich ist. Ich sage, nein. Und nun schauen Sie mich doch an…«
Sachs streifte sich Latexhandschuhe über und bat um die Waffe der Frau. Sie nahm die Glock, zog das Magazin heraus, entfernte die Patrone aus der Kammer und verstaute alles in einer Plastiktüte.
Dann gab sie Welles einen Rat mit auf den Weg. »Wissen Sie, Sie können sich beurlauben lassen.«
Die Beamtin schien sie nicht mal zu hören. »Sie ist einfach losgegangen«, sagte sie mit hohler Stimme. »Ich wollte es nicht. Ich
wollte
niemanden töten.«
»Linda?«, nahm Sachs einen neuen Anlauf. »Sie können sich beurlauben lassen. Für eine Woche oder zehn Tage.«
»Wirklich?«
»Sprechen Sie mit Ihrem Vorgesetzten.«
»Sicher. Ja. Das sollte ich vielleicht tun.« Welles stand auf und ging zu dem Sanitäter, der ihren Partner behandelte. Der Beamte hatte einen schillernden Bluterguss am Hals, schien ansonsten aber in Ordnung zu sein.
Das Team der Spurensicherung versammelte sich vor der Tür des Korridors, in dem der Zwischenfall stattgefunden hatte, öffnete die Koffer und legte die Ausrüstungsgegenstände bereit, um Partikel einsammeln, Fingerabdrücke nehmen, Videoaufnahmen anfertigen und Fotos schießen zu können. Sachs zog den weißen Tyvek-Overall an und streifte sich Gummiringe über die Schuhe.
Dann setzte sie das Headset auf und bat die Zentrale, mit Lincoln Rhymes Wohnung verbunden zu werden. Sie riss das Absperrband herunter und öffnete die Tür. Ein Schlitz in der Haut, um darin Dietriche und Handschellenschlüssel zu verstecken?, dachte sie. Von allen Tätern, mit denen sie und Lincoln bislang zu tun gehabt hatten, war der Hexer…
»Oh, verdammt«, fluchte sie.
»Dir auch einen guten Abend, Sachs«, ertönte Rhymes bissige Stimme in ihrem Ohr. »Zumindest glaube ich, dass du das bist. Es rauscht ziemlich heftig in der Leitung.«
»Ich fasse es nicht, Rhyme. Die Gerichtsmedizin hat den Toten abtransportiert, bevor ich ihn mir vornehmen konnte.« Sachs schaute in den Gang und sah Blut, sonst nichts.
»Was?«, rief er ungläubig. »Wer hat das veranlasst?«
Die Grundregel lautete, dass ein Tatort nur dann vom medizinischen Personal betreten werden durfte, wenn es dort Verletzte zu versorgen gab. Im Fall eines Mordes durfte niemand die Leiche berühren, auch nicht der Dienst habende Gerichtsmediziner, bevor die Spurensicherung ihre Arbeit getan hatte. Jeder Polizeischüler lernte dies schon zu Beginn der Ausbildung, und wer auch immer den Körper des Hexers freigegeben hatte, würde sich Sorgen um seine weitere Karriere machen müssen.
»Gibt’s ein Problem, Amelia?«, rief einer der Techniker von der Tür aus.
»Sieh mal«,
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