Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
noch jede Spur«, sagte er zu Grady.
Wobei das nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen musste. Vielleicht hatten sie schon jede Menge von Weirs Spuren gefunden, ihn womöglich sogar leibhaftig zu Gesicht bekommen – als Streifenbeamten, Sanitäter, ESU-Cop, Reporter, Detective in Zivil, Passant oder Obdachlosen –, und sie wussten es nur nicht.
Durch die gelbliche Scheibe in der Tür des Verhörraums sah Andrew Constable das grimmige Gesicht eines großen schwarzen Justizbeamten hereinschauen und ihn mustern. Dann wich der Mann zurück, und das Gesicht verschwand.
Constable stand von dem Metalltisch auf und ging an seinem Anwalt vorbei zur Tür. Er blickte nach draußen und sah zwei Wärter auf dem Gang stehen und ernst miteinander sprechen. Also gut.
»Was ist denn?«, fragte Joseph Roth seinen Mandanten.
»Nichts«, entgegnete Constable. »Ich hab nichts gesagt.«
»Oh, mir war so.«
»Nein.«
Allerdings war er sich nicht ganz sicher. Vielleicht hatte er doch unbewusst etwas geflüstert oder ein kurzes Gebet gemurmelt.
Er kehrte zum Tisch zurück, wo der Anwalt vor einem großen gelben Notizblock saß, auf dem ein halbes Dutzend Namen und Telefonnummern standen. Constables Leute in Canton Falls hatten sie ihnen genannt; sie waren das Resultat ihrer Nachforschungen über Weirs Pläne und seinen Aufenthaltsort.
Roth wirkte verunsichert. Ihnen war soeben mitgeteilt worden, dass ein Mann mit einem Gewehr vor wenigen Minuten einen Anschlag auf Grady verübt hatte, und zwar unmittelbar vor dem Gebäude. Doch Weir blieb weiterhin verschwunden; der Attentäter war jemand anders.
»Ich fürchte, dass Grady jetzt andere Sorgen hat, als sich um uns zu kümmern«, sagte der Anwalt. »Wir sollten ihn zu Hause anrufen und ihm unsere Ergebnisse übermitteln.« Er wies auf den Block. »Oder wir geben unsere Informationen wenigstens an diesen Detective weiter. Wie hieß er doch gleich? Bell, richtig?«
»Genau«, sagte Constable.
Roth fuhr mit seinem dicklichen Zeigefinger die Liste entlang. »Glauben Sie, dass jemand von diesen Leuten Genaueres über Weir weiß? Das wird die Staatsanwaltschaft nämlich haben wollen – etwas Konkretes.«
Constable beugte sich vor und betrachtete die Aufstellung. Dann warf er einen Blick auf die Uhr seines Anwalts und schüttelte langsam den Kopf. »Das möchte ich bezweifeln«, sagte er.
»Sie… Sie bezweifeln es?«
»Ja. Sehen Sie diese erste Nummer?«
»Ja.«
»Das ist die chemische Reinigung an der Harrison Street in Canton Falls. Das darunter ist der Supermarkt. Als Nächstes folgt die Baptistenkirche. Und die Namen? Ed Davis, Brett Samuels, Joe James Watkins?«
»Richtig«, sagte Roth. »Jeddy Barnes’ Helfershelfer.«
Constable lachte in sich hinein. »Herrje, nein. Die sind alle nicht echt.«
»Was?« Roth runzelte die Stirn.
Der Häftling beugte sich noch weiter vor und sah dem Anwalt tief in die verwirrt blickenden Augen. »Diese Namen und Nummern sind nicht echt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Natürlich verstehst du das nicht, du jämmerlicher Scheißjude«, flüsterte Constable und hieb dem schockierten Anwalt beide Fäuste an die Schläfe, bevor Roth die Arme hochreißen und sich schützen konnte.
…Einundvierzig
Andrew Constable war ein kräftiger Mann, denn er wanderte oft weit hinaus zu entlegenen Jagd- und Angelrevieren, nahm Rotwild aus und zersägte die Knochen oder hackte Holz.
Der dickbäuchige Joe Roth war ihm nicht gewachsen. Er wollte aufstehen und um Hilfe rufen, aber Constable schlug ihm hart auf den Kehlkopf. Der Schrei des Mannes verwandelte sich in ein Gurgeln.
Der Häftling riss ihn zu Boden und bearbeitete den blutenden Mann mit gefesselten Fäusten. Innerhalb kürzester Zeit war Roth bewusstlos und sein Gesicht angeschwollen wie eine Melone. Constable zerrte ihn zurück zum Tisch und setzte ihn mit dem Rücken zur Tür auf einen Stuhl. Falls einer der Wärter zufällig einen Blick in den Raum warf, würde es so aussehen, als habe der Anwalt sich mit gesenktem Kopf in die Unterlagen vertieft. Constable bückte sich, zog Roth einen Schuh und eine Socke aus und wischte damit so gut wie möglich das Blut vom Tisch. Den Rest bedeckte er mit Dokumenten und Notizzetteln. Er würde den Anwalt später töten. Vorerst, zumindest für die nächsten paar Minuten, musste hier alles ganz unverdächtig aussehen.
Ein paar Minuten – dann würde er frei sein.
Freiheit…
Denn nur darum ging es bei Erick Weirs Plan.
Constables bester Freund,
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