Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Familie gewesen. Er hatte schon während Karas Kindheit alle Brücken hinter sich abgebrochen und die Familie verlassen. Ihre Mutter und die Großeltern hatten sich stets geweigert, von ihm zu erzählen, und bei Familientreffen fiel nie sein Name. Doch natürlich brodelte die Gerüchteküche: Er war schwul, er war hetero und verheiratet, hatte aber eine Affäre mit einer Zigeunerin, er hatte wegen einer Frau einen Mann erschossen, er hatte nie geheiratet und war ein Säufer und Jazzmusiker…
Kara hatte schon immer die Wahrheit über ihn erfahren wollen. »Was ist mit ihm, Mum?«
»Interessiert es dich?«
»Oh, und wie. Erzähl ein bisschen von ihm«, bat sie, beugte sich vor und legte ihrer Mutter die Hand auf den Arm.
»Tja, mal sehen, wann mag das gewesen sein? Ich würde sagen, im Mai 1970, vielleicht auch 1971. Bei dem Jahr bin ich mir nicht mehr sicher – mein Gedächtnis lässt nach –, aber ich weiß, dass es Mai war. Dein Onkel und einige seiner Armeekameraden waren aus Vietnam zurückgekehrt.«
»Er war Soldat? Das wusste ich gar nicht.«
»Oh, er sah sehr gut in seiner Uniform aus. Aber da drüben muss es schrecklich gewesen sein.« Ihre Stimme klang nun ernst. »Der beste Freund deines Onkels wurde direkt neben ihm verwundet und starb in seinen Armen. Ein großer kräftiger Schwarzer. Nun ja, Tom und ein anderer Soldat haben sich dann in den Kopf gesetzt, eine Firma zu gründen und der Familie ihres toten Freundes zu helfen. Also sind sie in den Süden gegangen und haben ein Boot gekauft. Kannst du dir deinen Onkel auf einem Boot vorstellen? Ich fand das damals ziemlich merkwürdig. Sie machten eine Shrimpfabrik auf, und Tom wurde reich.«
»Mum«, sagte Kara leise.
Ihre Mutter lächelte über irgendeine Erinnerung und schüttelte den Kopf. »Ein Boot… Tja, die Firma war sehr erfolgreich. Und alle waren überrascht, denn Tom, nun ja, hat nie besonders intelligent gewirkt.« Die Augen ihrer Mutter funkelten. »Aber weißt du, was er immer zu ihnen gesagt hat?«
»Was denn, Mum?«
»›Dumm ist der, der Dummes tut.‹«
»Das ist eine gute Redensart«, flüsterte Kara.
»Oh, du hättest diesen Mann gern gehabt, Jenny. Wusstest du, dass er sogar mal den Präsidenten der Vereinigten Staaten getroffen hat? Und er hat in China Tischtennis gespielt.«
Die alte Frau bemerkte gar nicht, dass ihre Tochter stumm weinte, und so erzählte sie Kara auch noch den Rest des Films
Forrest Gump
, der gerade eben noch über den Fernsehschirm geflimmert war. Karas Onkel hatte in Wahrheit Gil geheißen, aber in der Vorstellung ihrer Mutter wurde er zu Tom – vermutlich nach dem Hauptdarsteller des Films, Tom Hanks. Kara war für sie zu Jenny geworden, Forrests Freundin.
Nein, nein, nein, dachte Kara verzweifelt. Ich hab es doch nicht mehr rechtzeitig geschafft.
Die Seele ihrer Mutter war aufgetaucht und wieder gegangen. Zurückgeblieben war nur eine Illusion.
Die Erzählung der Frau verwandelte sich in einen wirren Wortschwall, der vom Shrimpboot im Golf zu einem Fischkutter im Nordatlantik und einem Jahrhundertsturm abschweifte, dann weiter zu einem sinkenden Ozeandampfer, auf dessen Deck ihr Bruder im Smoking Geige spielte.
Gedanken, Erinnerungen und Bilder aus einem Dutzend weiterer Spielfilme oder Bücher vermischten sich mit echten Rückblenden. Schon bald verschwand Karas »Onkel« vollständig daraus, und jeglicher Zusammenhang ging verloren.
»Es ist irgendwo da draußen«, sagte die alte Frau entschieden. »Ich weiß, es ist da draußen.« Sie schloss die Augen.
Kara saß vorgebeugt auf dem Sessel und beließ ihre Hand sanft auf dem glatten Arm der Mutter, bis diese eingeschlafen war.
Vorhin ist sie
mit Sicherheit
bei Sinnen gewesen, dachte sie. Andernfalls hätte Jaynene nicht Bescheid gesagt.
Und wenn es einmal geschehen ist, kann es auch wieder geschehen, hoffte sie trotzig.
Schließlich stand Kara auf und ging hinaus auf den dunklen Flur. Sie mochte als Zauberkünstlerin noch so talentiert sein; den einen Trick, den sie sich am sehnlichsten wünschte, beherrschte sie leider nicht: Sie konnte ihre Mutter nicht an einen Ort zaubern, an dem ein fürsorgliches Herz bis ans Ende der von Gott zugedachten Jahre voller Wärme weiterschlug. Wo jedes Kapitel einer reichhaltigen Familiengeschichte perfekt im Gedächtnis erhalten blieb. Wo die vermeintlichen Klüfte zwischen geliebten Menschen sich am Ende als bloße
Effekte
erwiesen – als vorübergehende Illusionen.
…Neunundvierzig
Gerald
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