Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
»Das war
er
!« Ein Blick zu dem Detective. »Der Hauswart hat ganz anders ausgesehen als der Täter, nicht wahr?«
Sellitto las vor. »Anfang sechzig, kahlköpfig, ohne Bart, grauer Overall.«
»
Grauer
Overall!«, rief Rhyme.
»Ja.«
»Daher die Seidenfasern. Es war ein Kostüm.«
»Wovon redest du da?«, fragte Cooper.
»Unser Täter hat die Studentin ermordet. Dann wurde er von den Beamtinnen überrascht, blendete sie mit dem Lichtblitz, rannte in den Vortragssaal, zündete die Lunten an und schaltete den Digitalrekorder ein, damit man glauben würde, er befinde sich weiterhin im Raum. Stattdessen hat er jedoch die Hauswartverkleidung angezogen und ist zur zweiten Tür hinausgelaufen.«
»Aber er hat sich die alte Kluft nicht einfach vom Leib gerupft wie ein Rennfahrer das Abreißvisier vom Helm, Linc«, erwiderte der rundliche Polizist. »Wie, zum Teufel, soll er das alles geschafft haben? Er war doch höchstens für sechzig Sekunden außer Sicht.«
»Von mir aus. Falls du eine Erklärung hast, die ein göttliches Eingreifen ausschließt, höre ich sie mir gern an.«
»Komm schon. Das ist völlig unmöglich.«
»Ach ja?«, fragte Rhyme zynisch und fuhr zur Tafel, an der Thom die Ausdrucke von Amelias Digitalfotos aufgehängt hatte. »Wie wär’s dann mit ein paar
Beweisen
?« Er musterte zuerst die Fußabdrücke des Täters und danach die Spuren, die Sachs auf dem hinteren Flur gesichert hatte.
»Die Schuhe«, rief er.
»Sind es dieselben?«, fragte der Detective.
»Ja«, sagte Sachs und kam zur Tafel. »Ecco, Größe zehn.«
»Mein Gott«, murmelte Sellitto.
»Okay, was haben wir?«, fragte Rhyme. »Ein Täter Anfang fünfzig, durchschnittliche Statur und bartlos, zwei verformte Finger, vermutlich mit Strafakte, weil er seine Papillarleisten verbirgt – und das ist auch schon
alles
, was wir wissen.« Doch dann runzelte Rhyme die Stirn. »Nein«, murmelte er finster, »das ist
nicht
alles. Da ist noch etwas. Er hatte Kleidung zum Wechseln und seine Mordinstrumente dabei… Der Täter geht methodisch vor.« Er sah Sellitto an. »Er wird es wieder tun.«
Sachs nickte mit bitterer Miene.
Rhyme verfolgte, wie Thom eifrig die Einzelheiten niederschrieb, und suchte nach einem verbindenden Element.
Die schwarze Seide, das Make-up, der Kostümwechsel, die Verkleidungen, der Lichtblitz und die Pyrotechnik.
Die verschwindende Tinte.
»Ich vermute«, sagte Rhyme langsam, »dass unser Mann sich recht gut aufs Zaubern versteht.«
Sachs nickte. »Das ergibt einen Sinn.«
Auch Sellitto nickte. »Okay. Kann schon sein. Aber was machen wir jetzt?«
»Das liegt doch auf der Hand«, sagte Rhyme. »Wir besorgen uns auch einen.«
»Einen was?«, fragte Sellitto.
»Einen Zauberkünstler natürlich.«
»Mach das noch mal.«
Sie hatte es bereits achtmal vorgeführt.
»
Noch
mal?«
Der Mann nickte.
Also machte Kara es noch mal.
Der
Drei-Taschentuch-Trick
– entwickelt von dem berühmten Zauberkünstler und Lehrmeister Harlan Tarbell – kam beim Publikum immer gut an. Es ging darum, drei verschiedenfarbige Seidentücher, die hoffnungslos verknotet schienen, voneinander zu trennen, was nur mit einiger Übung reibungslos zu bewerkstelligen war. Nach Karas Ansicht hatte sie sich ziemlich gut geschlagen.
David Balzac war leider anderer Meinung. »Deine Münzen haben geklimpert«, sagte er seufzend – was einer harten Kritik gleichkam und bedeutete, dass die Illusion oder der Trick unbeholfen und durchschaubar wirkte. Der massige alte Mann mit dem weißen Schopf und dem von Nikotin verfärbten Spitzbart schüttelte verärgert den Kopf, nahm die dicke Brille ab, rieb sich die Augen und setzte die Brille wieder auf.
»Ich fand es ziemlich flüssig«, protestierte Kara. »Ehrlich, ich fand’s gut.«
»Aber nicht du warst das Publikum, sondern ich. Noch mal von vorn.«
Sie standen auf einer kleinen Bühne im hinteren Teil des Smoke & Mirrors, eines Ladens, den Balzac vor zehn Jahren gekauft hatte, kurz nach seinem Rückzug aus den internationalen Zauberkünstler- und Illusionistenkreisen. In dem etwas heruntergekommenen Geschäft wurden Zauberutensilien verkauft, Kostüme und Requisiten verliehen sowie kostenlose Amateurshows für die Kunden und Nachbarn veranstaltet. Vor anderthalb Jahren hatte Kara, damals freiberufliche Redakteurin der Zeitschrift
Self
, endlich allen Mut zusammengenommen und war zum ersten Mal auf die Bühne gestiegen – bis dahin hatte der Ruf des Großen Balzac sie monatelang
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