Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Zentrale ihn über jeden Mord in New York City unverzüglich zu informieren habe. Als sie von diesem speziellen Toten erfuhren, gelangten sie zu dem Schluss, es müsse sich um eine weitere Tat des Hexers handeln: Die rätselhafte Art und Weise, auf die der Täter sich Zutritt zu der Wohnung verschafft hatte, wies bereits in diese Richtung, doch der maßgebliche Umstand war die Tatsache, dass man die Armbanduhr des Opfers zerschmettert hatte – genau wie beim ersten Mord an jenem Morgen.
Die Todesursache hingegen war diesmal eine andere und hatte Sachs zu der anfänglichen Bemerkung verleitet. Während Sellitto den Detectives und Streifenbeamten auf dem Flur Anweisungen erteilte, betrachtete Sachs das bedauernswerte Opfer – einen jungen Mann namens Anthony Calvert. Er lag rücklings auf dem Couchtisch im Wohnzimmer. Man hatte seine Hände und Füße an die jeweiligen Tischbeine gefesselt und ihn dann in der Körpermitte durchgesägt.
Sachs schilderte Rhyme den grausigen Anblick, der sich ihr bot.
»Tja, es ist nur folgerichtig«, stellte der Kriminalist ungerührt fest.
»Folgerichtig?«
»Er bleibt seinem Zauberthema treu. Die Seile beim ersten Mord, die Säge in diesem Fall.« Er wandte sich mit lauter Stimme an jemanden im Raum, vermutlich an Kara. »Das ist doch ein Zaubertrick, oder? Jemanden in der Mitte durchzusägen?« Er wartete die Antwort ab und sprach dann wieder mit Sachs. »Sie sagt, es sei eine klassische Illusionistennummer.«
Er hatte Recht, begriff sie. Der schockierende Anblick hatte sie die Verbindung zwischen den beiden Morden im ersten Moment gar nicht erkennen lassen.
Eine Illusionistennummer…
Wenngleich groteske Zerstückelung es wesentlich besser beschrieb.
Bleib objektiv, ermahnte sie sich. Ein Sergeant musste objektiv bleiben.
Aber dann kam ihr ein Gedanke. »Rhyme, glaubst du…«
»Was?«
»Glaubst du, dass er bei Bewusstsein war, als der Täter angefangen hat? Er liegt auf dem Rücken, und seine vier Gliedmaßen sind an die Tischbeine gebunden.«
»Ach, du meinst, er hat uns vielleicht irgendeinen Hinweis auf die Identität des Mörders hinterlassen? Gut.«
»Nein«, sagte sie leise. »Ich dachte an die Schmerzen.«
»Oh. Das.«
Oh. Das…
»Man wird es bei der Autopsie herausfinden.«
Dann bemerkte sie eine deutliche Verletzung an Calverts Schläfe, offenbar hervorgerufen durch einen stumpfen Gegenstand. Die Wunde hatte nur wenig geblutet, was darauf schließen ließ, dass der Herzschlag schon kurz nach der Zertrümmerung des Schädels ausgeblieben war.
»Nein, Rhyme, wie es scheint, ist das Opfer vorher gestorben.«
Sie nahm kaum wahr, wie der Kriminalist seinen Betreuer anwies, die Erkenntnisse in die Tabelle einzutragen. Dann sagte er noch etwas, aber Amelia achtete nicht darauf. Der Anblick des Opfers erschütterte sie nachhaltig. Doch sie wollte es so. Ja, sie war durchaus in der Lage, nicht an die Toten zu denken – jeder, der bei der Spurensicherung arbeitete, musste das irgendwie hinbekommen –, und die Anwandlung würde gleich verflogen sein. Doch der Tod verdiente nach ihrer Ansicht einen Moment der Stille. Sachs tat dies nicht aus religiöser Überzeugung oder aus einem eher abstrakten Respekt vor den Opfern; nein, sie tat es für sich selbst, damit ihr Herz nicht irgendwann versteinerte, wie es bei Menschen in diesem Beruf nur allzu häufig geschah.
Sie registrierte, dass Rhyme mit ihr sprach. »Wie bitte?«, fragte sie.
»Ich wollte wissen, ob dort irgendwelche Waffen liegen.«
»Auf den ersten Blick nicht, aber ich habe noch nicht danach gesucht.«
Ein Sergeant und ein uniformierter Officer gesellten sich zu Sellitto, der an der Wohnungstür stand. »Wir haben die Nachbarn befragt«, sagte einer von ihnen, schaute in Richtung der Leiche und zuckte zusammen. Amelia vermutete, dass er das Blutbad zum ersten Mal aus der Nähe sah. »Der Tote war ein netter, ruhiger Kerl. Alle haben ihn gemocht. Schwul, aber keiner von der harten Sorte oder so. In letzter Zeit scheint er Single gewesen zu sein.«
Sachs nickte. »Es klingt nicht danach, als hätte er den Mörder gekannt, Rhyme«, sagte sie ins Mikrofon.
»Das haben wir auch nicht angenommen, oder?«, erwiderte der Kriminalist. »Der Hexer geht nach einem anderen Schema vor – wie auch immer das im Einzelnen aussehen mag.«
»Womit hat er sein Geld verdient?«, fragte Amelia die Beamten.
»Er war Maskenbildner an einem Broadwaytheater. Wir haben seinen Koffer in der Gasse gefunden. Sie wissen
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