Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
schon, Haarspray, Make-up, Pinsel.«
Sachs fragte sich, ob Calvert wohl je für Werbefotografen gearbeitet hatte und ob sie ihm in dieser Funktion womöglich einmal begegnet war – damals, als Mannequin in Diensten der Modellagentur Chantelle an der Madison Avenue. Im Gegensatz zu vielen Fotografen und den Geschäftsführern der Werbeagenturen behandelten Visagisten die Modelle wie menschliche Wesen. »Also gut, lasst sie uns anpinseln, und dann schauen wir mal, wie sie aussieht«, würde einer dieser typischen Erbsenzähler vielleicht fordern. »Verzeihung, aber ich wusste nicht, dass sie ein Lattenzaun ist«, mochte dann der Maskenbildner entgegnen.
Ein Detective asiatischer Abstammung kam zur Tür und klappte sein Mobiltelefon zu. Er arbeitete beim Neunten Revier, zu dessen Bezirk diese Gegend gehörte. »Was haben wir denn hier?«, fragte er fröhlich.
»Na, was schon?«, murmelte Sellitto. »Weiß jemand, wie der Täter entkommen konnte? Das Opfer hat noch eigenhändig den Notruf gewählt. Ihre Beamten dürften nach zehn Minuten vor Ort gewesen sein.«
»Nach sechs«, sagte der Detective.
»Wir haben uns ohne Sirene genähert und alle Ausgänge und Fenster im Blick behalten«, sagte der Sergeant. »Als wir hereinkamen, war der Körper noch warm, und ich rede hier von siebenunddreißig Grad. Dann sind wir von Tür zu Tür gegangen, aber leider ohne Ergebnis.«
»Gab es Zeugen?«
Der Sergeant nickte. »Die einzige Person auf dem Flur war eine alte Dame. Sie hat uns ins Haus gelassen. Wenn sie zurückkommt, werden wir mit ihr sprechen. Vielleicht hat sie den Täter gesehen.«
»Sie ist weggegangen?«, fragte Sellitto.
»Ja.«
Rhyme hatte mitgehört. »Du weißt, wer das gewesen ist, nicht wahr?«
»Verdammter Mist«, fluchte Sachs.
»Nein, keine Sorge«, sagte der Detective. »Wir haben jedem eine Nachricht unter der Tür hindurchgeschoben. Sie wird uns anrufen.«
»Nein, wird sie nicht«, sagte Sachs und seufzte. »Das war der Täter.«
»Die Frau?«, fragte der Sergeant. Seine Stimme überschlug sich fast. Er lachte.
»Das war keine
Sie
«, erklärte Sachs. »Sie sah lediglich wie eine alte Frau aus.«
»He, Officer, wir dürfen nicht zu paranoid werden«, sagte Sellitto. »Dieser Kerl kann doch nicht so einfach sein Geschlecht wechseln.«
»Doch, er kann. Denken Sie daran, was Kara uns erzählt hat. Es war die Frau, Lieutenant. Wollen wir wetten?«
»Ich halte nicht dagegen, Sachs«, sagte Rhymes Stimme in ihrem Ohr.
»Sie war so ungefähr siebzig Jahre alt«, verteidigte sich der Sergeant. »Und sie hat eine große Einkaufstasche mit sich herumgeschleppt. Man konnte deutlich eine Ananas…«
»Sehen Sie«, unterbrach Amelia ihn und deutete in Richtung des Küchentresens, auf dem zwei spitze Blätter lagen. Unmittelbar daneben konnte man ein Gummiband erkennen, an dem eine kleine Karte hing. Darauf leuchtete das Logo der Firma Dole, gefolgt von einigen schmackhaften Rezepten für frische Ananas.
Verflucht. Sie hatten ihn direkt vor der Nase gehabt – nur wenige Zentimeter entfernt.
»In der Einkaufstasche steckte vermutlich die Mordwaffe«, sagte Rhyme.
Sachs wiederholte das für den immer mürrischer werdenden Detective vom Neunten Revier.
»Auf das Gesicht der Frau haben Sie nicht geachtet, richtig?«, fragte sie den Sergeant.
»Nicht wirklich. Ich hab ihr bloß einen kurzen Blick zugeworfen. Sie war mächtig geschminkt. Wie heißt das Zeug doch gleich? Meine Großmutter hat es auch immer benutzt.«
»Rouge?«, schlug Sachs vor.
»Ja. Und die Augenbrauen waren aufgemalt… Na ja, wir werden sie schon finden. Sie…
er
kann noch nicht besonders weit gekommen sein.«
»Er hat sich längst wieder umgezogen und die alten Sachen wahrscheinlich weggeworfen, Sachs«, sagte Rhyme.
»Er trägt mittlerweile andere Kleidung«, wandte sie sich an den asiatischen Detective. »Aber der Sergeant hier kann Ihnen eine Beschreibung des Kostüms liefern. Sie sollten die Mülltonnen und Gassen der näheren Umgebung danach absuchen lassen.«
Der Detective runzelte kühl die Stirn und musterte Sachs von oben bis unten. Ein warnender Blick von Sellitto erinnerte sie daran, dass ein
zukünftiger
Sergeant sich tunlichst erst
nach
der Beförderung wie ein Vorgesetzter aufführen sollte. Dann ordnete der Lieutenant die Suche an, und der Detective erteilte über Funk die notwendigen Weisungen.
Nachdem Sachs sich den Tyvek-Overall übergestreift hatte, schritt sie auf dem Flur und in der Gasse das
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