Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
wir haben ihn!«
»Wo, Rhyme?«
»Er ist nach Westen auf die Hundertfünfundzwanzigste Straße eingebogen, nahe der Fünften Avenue.«
»Ich bin kurz vor der Eins-zwei-fünf, Höhe Adam Clayton Powell. Ich werd versuchen, ihm den Weg abzuschneiden. Aber schick mir Verstärkung«, rief sie.
»Ist bereits angefordert, Sachs. Wie schnell bist du?«
»Keine Ahnung, ich achte nicht unbedingt auf den Tacho.«
»Ist wohl auch besser so. Behalt lieber die Straße im Blick.«
Hupend drang Sachs mitten auf die belebte Kreuzung an der hundertfünfundzwanzigsten Straße vor und versperrte mit ihrem Camaro die beiden Fahrspuren nach Westen. Dann sprang sie aus dem Wagen und zog die Glock. Der Verkehr in Richtung Osten war ebenfalls vorübergehend zum Erliegen gekommen.
»Aussteigen! Dies ist ein Polizeieinsatz. Steigen Sie aus, und gehen Sie in Deckung!«, schrie Sachs den Fahrern in der ersten Reihe zu. Die beiden – ein Paketzusteller und eine Frau in McDonald’s-Montur – gehorchten unverzüglich.
Nun waren sämtliche Fahrspuren der Hundertfünfundzwanzigsten blockiert.
»Das gilt für alle«, rief sie. »Gehen Sie in Deckung! Sofort!«
»Leck mich.«
»Genau.«
Sie schaute nach rechts und entdeckte vier Straßenjungs, die an einem Drahtzaun lehnten und mit müdem Interesse die österreichische Pistole, das Detroiter Cabrio und die Rothaarige beäugten.
Die meisten anderen Leute auf der Straße hatten inzwischen Schutz gesucht, aber diese vier Teenager rührten sich nicht vom Fleck und wirkten dabei vollkommen gelassen. Warum sich von hier wegbewegen? Es kam nicht oft vor, dass in dieser Gegend ein Wesley-Snipes-Film mitzuerleben war.
In einiger Entfernung sah Sachs den Mazda hektisch nach Westen durch den Verkehr kurven und in hohem Tempo auf ihre improvisierte Straßensperre zukommen. Der Hexer registrierte die Blockade erst, nachdem er die letztmögliche Seitenstraße passiert hatte. Mit einer Vollbremsung hielt er an. Hinter ihm stellte sich ein Müllwagen quer. Der Fahrer hatte die Situation erkannt und schnell reagiert. Zusammen mit den Müllmännern lief er nun weg und ließ das Fahrzeug als Hindernis stehen.
Amelia wandte sich noch einmal an die Jugendlichen. »Runter mit euch!«, rief sie.
Die vier grinsten bloß.
Sachs zuckte die Achseln, beugte sich über die Motorhaube des Camaro und visierte die Windschutzscheibe des Mazda an.
Hier war er also nun, der Hexer. Sie konnte sein Gesicht und das blaue Harley-Hemd sehen. Unter der schwarzen Mütze flog der falsche Zopf hin und her, weil der Mann sich verzweifelt nach einem Fluchtweg umsah.
Aber es gab keinen.
»Sie! Dort im Mazda! Aussteigen und hinlegen!«
Keine Reaktion.
»Sachs?«, ertönte Rhymes Stimme im Headset. »Kannst du…«
Sie riss sich den Hörer vom Kopf und richtete Kimme und Korn erneut auf die Silhouette des Mörders.
Wenn man schon eine Waffe mit sich herumschleppt, kann man sie genauso gut auch benutzen…
Die Worte von Detective Mary Shanley kamen ihr in den Sinn. Sachs atmete tief durch und hielt die Glock ganz ruhig, zielte ein Stück höher und eine Winzigkeit nach links, um die Schwerkraft und die angenehme Aprilbrise auszugleichen.
Wenn du schießt, existiert nichts außer dir und dem Ziel, verbunden durch ein unsichtbares Kabel, ähnlich der stillen Energie des Lichts. Ob du dein Ziel triffst, hängt allein von der Quelle dieser Energie ab. Falls sie deinem Hirn entspringt, besteht eine gute Aussicht auf Erfolg. Aber falls dein Herz der Ursprung ist, wirst du fast immer siegreich sein.
Die Opfer des Hexers – Tony Calvert, Swetlana Rasnikow, Cheryl Marston, Officer Larry Burke – sorgten dafür, dass dieser Schuss definitiv von Herzen kommen würde. Sachs wusste, dass sie den Mann nicht verfehlen konnte.
Na los, du Mistkerl, dachte sie. Leg einen Gang ein. Tu mir den Gefallen.
Komm schon!
Gib mir einen Vorwand…
Der Wagen rollte an. Ihr Finger legte sich um den Abzug.
Und als hätte er es gespürt, bremste der Hexer.
»Komm schon«, flüsterte sie.
In Gedanken ging sie den weiteren Ablauf durch. Falls er nur zu fliehen versuchte, würde sie den Kühler oder einen Reifen zerschießen und sich bemühen, ihn lebend zu erwischen. Aber falls er auf sie oder den Fußweg zuhielt und somit Unbeteiligte in Gefahr brachte, würde sie ihn töten.
»Yo!«, rief einer der Teenager vom Bürgersteig.
»Knall den Pisser ab!«
»Mach ihn kalt, Alte!«
Ihr braucht mich nicht zu überreden, Jungs. Ich warte ja nur
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