Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Kunden beschäftigt war und lauthals stöhnte, ob nun vor Schmerz oder Lust oder aus beiden Gründen zugleich.
Der Reverend wusste, dass es ihn eigentlich mit Stolz erfüllen sollte, für diese Mission nach New York entsandt worden zu sein, aber er fühlte sich wie der Apostel Paulus auf einer der Reisen zu den Ungläubigen in Griechenland und Kleinasien, auf denen ihm nur Spott und Hohn entgegengeschlagen waren.
Ah, ah, ah, ah… Genau da, genau da… O ja, ja, ja, weiter, weiter, weiter…
Okay, bis hierhin und
nicht
weiter. Eine solche Verderbtheit wäre sogar Paulus zu viel geworden. Der Konzertabend würde erst in einigen Stunden beginnen, aber Reverend Swensen beschloss, früher aufzubrechen. Er kämmte sich, setzte die Brille auf und warf die Bibel, einen Stadtplan und eine Predigt, an der er arbeitete, in seinen Aktenkoffer. Dann ging er hinunter in die Lobby, wo eine weitere Prostituierte saß. Wenigstens
schien
es sich um eine Frau zu handeln.
Herr im Himmel, voll der Gnaden…
Sein Magen zog sich vor Anspannung zusammen. Er sah zu Boden, eilte vorbei und rechnete mit einem unsittlichen Angebot. Doch sie – oder er oder was auch immer – lächelte nur. »Herrliches Wetter, nicht wahr, Pater?«
Reverend Swensen blickte erstaunt auf und erwiderte nach kurzem Zögern das Lächeln. »Ja, in der Tat«, sagte er und widerstand dem Impuls, »mein Kind« anzufügen, was er in all den Jahren als Geistlicher noch nie getan hatte. »Einen schönen Tag noch«, sagte er stattdessen.
Draußen erwartete ihn der harte Alltag der Lower East Side von New York City.
Er blieb auf dem Gehweg vor dem Hotel stehen und ließ die Eindrücke einen Moment auf sich wirken. Taxis huschten vorbei, junge Asiaten und Latinos kreuzten zielstrebig seinen Weg, Busse stießen heiße, metallisch riechende Abgase aus, und chinesische Botenjungen rasten auf ihren alten Fahrrädern den Bürgersteig entlang. Das alles war so furchtbar anstrengend. Nervös und gereizt kam der Reverend zu dem Entschluss, ein Spaziergang würde ihm gut tun. Er hatte auf dem Stadtplan nachgesehen und wusste, dass die Schule, in der das Konzert stattfinden sollte, relativ weit von hier entfernt lag, aber er musste irgendwie dieses übermächtige Gefühl der Beklemmung loswerden. Er würde einen Schaufensterbummel machen, eine Kleinigkeit zu Abend essen und an seiner Predigt schreiben.
Noch während er sich orientierte, hatte er den Eindruck, beobachtet zu werden. Er schaute nach links in die Gasse neben dem Hotel. Ein Mann stand halb verborgen hinter einem Müllcontainer, ein schlanker braunhaariger Mann in einem Overall, der eine kleine Werkzeugtasche in der Hand hielt. Er musterte den Geistlichen von oben bis unten, als führe er irgendetwas im Schilde. Und als wäre er ertappt worden, wandte er sich hastig ab und wich in die Gasse zurück.
Reverend Swensen schloss die Finger noch etwas fester um den Griff des Aktenkoffers und fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, das sichere Zimmer – so heruntergekommen und laut es auch sein mochte – vorzeitig zu verlassen. Dann lachte er leise auf. Übertreib’s nicht, ermahnte er sich im Stillen. Der Mann war ein einfacher Hauswart oder Handwerker gewesen, vielleicht sogar ein Angestellter des Hotels, den es einfach nur überrascht hatte, einen Pater aus einem so schäbigen Etablissement kommen zu sehen.
Und außerdem würde sein Gewand ihm mit Sicherheit eine gewisse Immunität verleihen, sogar hier, in diesem modernen Sodom, überlegte er und brach in Richtung Norden auf.
…Einundzwanzig
In der einen Sekunde war er noch da, in der nächsten verschwunden.
Der kleine rote Ball konnte unmöglich von Karas ausgestreckter rechter Hand zu dem Fleck hinter ihrem Ohr gelangen.
Und dennoch war es so.
Und als sie ihn dann in die Luft warf, konnte er nicht einfach verschwinden und in ihrer linken Armbeuge wieder auftauchen.
Doch auch das geschah.
Wie ist das nur möglich?, grübelte Rhyme.
Er befand sich mit ihr im Arbeitszimmer seines Hauses und wartete auf Amelia Sachs und Roland Bell. Mel Cooper legte soeben die Beweisstücke auf den Tischen bereit, aus den Lautsprechern der Anlage erklang ein druckvolles Jazzpiano, und Kara gab eine kleine Privatvorstellung.
Sie stand vor einem der Fenster und trug eines von Sachs’ schwarzen T-Shirts aus dem Schrank im ersten Stock. Thom wusch unterdessen ihr Oberteil, um die Ketchupflecke zu entfernen.
»Wo haben Sie die Dinger hergeholt?«, fragte Rhyme mit Blick
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