Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Gefallen.«
»Na klar.«
»Ich brauche etwas Medizin.«
Kara sah an der Wand einige Tablettenfläschchen stehen.
»Nein, da drüben auf dem Bücherregal.«
»Ah, ich verstehe. Welche Sorte?«
»Die ganz außen. Macallan, achtzehn Jahre alt.« Er flüsterte. »Und schütten Sie ihn bitte sehr leise ein.«
»He, da haben Sie sich genau die Richtige ausgesucht. Robert-Houdin hat gesagt, um ein erfolgreicher Illusionist zu sein, müsse man drei Eigenschaften beherrschen: Geschicklichkeit, Geschicklichkeit und Geschicklichkeit.« Gleich darauf goss sie einen kräftigen Schluck des rauchigen Whiskys in Rhymes Becher – nahezu geräuschlos und mit einer blitzschnellen Bewegung. Thom hätte in unmittelbarer Nähe stehen können und würde nichts davon bemerkt haben. Kara steckte den Becher in die Halterung am Rollstuhl und schob den Strohhalm durch den Deckel.
»Genehmigen Sie sich auch einen«, sagte Rhyme.
Kara schüttelte den Kopf und deutete auf die Kaffeekanne, die sie fast im Alleingang geleert hatte. »Das ist meine Droge.«
Rhyme trank einen Schluck, lehnte den Kopf zurück, ließ die scharfe Flüssigkeit in seinen Rachen rinnen und schluckte sie hinunter. Sein Blick richtete sich abermals auf Karas Hände und das unglaubliche Verhalten der roten Bälle. Er trank noch einen Schluck. »Das gefällt mir.«
»Was?«
»Dieser Begriff der Illusion.« Sei nicht rührselig, ermahnte er sich. Wenn du trinkst, wirst du immer so furchtbar sentimental. Doch diese Einsicht hielt ihn nicht davon ab, sich den nächsten Schluck Whisky zu genehmigen. »Wissen Sie, die Realität ist manchmal nur schwer zu ertragen.« Fast zwangsläufig folgte darauf der trübsinnige Blick auf seinen reglosen Körper.
Noch im selben Moment bedauerte er den Kommentar – und den Blick – und wollte das Thema wechseln. Aber Kara verschonte ihn mit falscher Anteilnahme. »Ich bin mir nicht sicher, ob so etwas wie Realität überhaupt existiert«, sagte sie.
Er verstand nicht, was sie meinte, und runzelte die Stirn.
»Ist nicht fast unser gesamtes Leben eine einzige Illusion?«, fuhr sie fort.
»Wie das?«
»Tja, alles Vergangene ist Erinnerung, nicht wahr?«
»Stimmt.«
»Und alles Zukünftige ist Vorstellung. Beides sind Illusionen – unser Gedächtnis ist unzuverlässig, und was die Zukunft anbelangt, so spekulieren wir nur. Vollkommen real ist einzig und allein der jeweils gegenwärtige Moment – und der verwandelt sich ständig von einer Vorstellung in eine Erinnerung. Sehen Sie? Der Großteil unseres Lebens ist eine Illusion.«
Rhyme lachte leise. Er war Logiker und Wissenschaftler und hätte Karas Theorie gern widerlegt, doch er fand keinen Ansatz. Sie hatte wohl Recht, folgerte er. Er verlor sich sehr oft in Gedanken an das Davor, an die Zeit vor dem Unfall, und daran, wie sein Leben sich im Danach verändert hatte.
Und die Zukunft? O ja, die spielte auch eine große Rolle. Außer Sachs und Thom wusste kaum jemand, dass er fast jeden Tag mindestens eine Stunde lang trainierte – manuelle Übungen zur Steigerung seiner Bewegungsreichweite absolvierte, sich in einem nahen Krankenhaus einer Wassertherapie unterzog oder eine Runde auf dem Reizimpulsfahrrad durchlief, das in einem der oberen Schlafzimmer verstaut war. Das Programm sollte ihm zu mehr nervlichen und motorischen Funktionen verhelfen, seine Ausdauer kräftigen und den Gesundheitsproblemen vorbeugen, die einem Querschnittsgelähmten drohten. Hauptsächlich aber quälte er sich, um seine Muskeln für den Tag zu stärken, an dem eine Heilung möglich sein würde.
Karas Theorie ließ sich auch auf Rhymes Beruf übertragen: Bei der Arbeit an einem Fall brachte er ständig seine umfassenden Fachkenntnisse und das Wissen über frühere Verbrechen zur Anwendung, während er gleichzeitig vorauszusehen versuchte, wo ein Verdächtiger sich aufhielt und was er als Nächstes tun würde.
Alles Vergangene ist Erinnerung, alles Zukünftige ist Vorstellung…
»Da das Eis nun gebrochen ist«, sagte Kara und nahm Zucker zum Kaffee, »möchte ich ein Geständnis ablegen.«
Er trank den nächsten Schluck. »Ja?«
»Als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, ist mir ein bestimmter Gedanke gekommen.«
Ach ja, erinnerte er sich. Der
Blick
. Der berühmte Ich-will-weg-von-dem-Krüppel-Blick. Begleitet von dem
Lächeln
. Es gab nur eines, das schlimmer war, und offenbar stand es ihm nun bevor: die furchtbar unbeholfene
Entschuldigung
für den
Blick
und das
Lächeln
.
Sie zögerte
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