Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Angler.
Voller Misstrauen achtete Amelia auf seine linke Hand und sah, dass der kleine und der Ringfinger nicht miteinander verschmolzen waren. Demnach handelte es sich nicht um den Hexer. Aber wer, zum Teufel, war er dann? Und was hatte er an
ihrem
Tatort verloren?
Der Mann stapfte nun durch die Trümmer der Hütte, packte Bretter, Spanplatten und Wellblechstücke und warf sie achtlos über die Schulter.
»He, Sie!«, rief Sachs. »Hauen Sie ab, und zwar sofort!«
»Es könnte noch jemand unter den Trümmern liegen!«, antwortete er, ohne sich umzuwenden.
»Das ist ein Tatort!«, schrie sie wütend. »Sie haben da nichts zu suchen.«
»Es könnte noch jemand unter den Trümmern liegen!«, wiederholte er.
»Nein, nein, nein. Die Leute wurden alle geborgen. Es geht ihnen gut. He, hören Sie mich?… Verzeihung, Kumpel.
Hören
Sie mich?«
Ob nun ja oder nein, er ignorierte sie und grub fieberhaft weiter. Was sollte das? Der Mann war gut gekleidet und trug eine goldene Rolex. Der Crackjunkie Carlos war mit Sicherheit keiner seiner Verwandten.
Sachs murmelte in Gedanken das Stoßgebet aller Polizisten – Herr, erlöse uns von besorgten Bürgern – und winkte zwei Streifenbeamte heran. »Schafft ihn da weg.«
»Wir brauchen mehr Sanitäter!«, rief der Fremde. »Vielleicht wurden Kinder verschüttet.«
Resigniert verfolgte Sachs, wie die Fußabdrücke ihrer Kollegen zur langsamen Vernichtung der Spuren beitrugen. Die Beamten packten den Mann an den Armen und zogen ihn auf die Beine. Er riss sich los, rief Sachs hochnäsig seinen Namen zu, als sei er eine Art Mafioso, den alle kennen müssten, und setzte zu einem Vortrag darüber an, wie schändlich die Polizei die ortsansässige Latino-Bevölkerung tyrannisierte.
»Lady, wissen Sie eigentlich, wen Sie hier…«
»Legt ihm Handschellen an«, sagte sie. »Und dann schafft ihn mir aus den Augen.« Mochte das Ausbildungshandbuch auch noch so sehr den guten Kontakt zu den Bürgern anraten, die Ermittlungsarbeit war in diesem Fall wichtiger.
Die Kollegen nahmen den rotgesichtigen, vor Wut schäumenden Mann in Gewahrsam und führten ihn weg. »Sollen wir ihn einlochen?«, fragte einer der Männer.
»Nein, zieht ihn bloß eine Weile aus dem Verkehr«, erwiderte Sachs, was bei einigen der Schaulustigen Heiterkeit hervorrief. Sie sah, dass er auf der Rückbank eines Streifenwagens Platz nehmen musste. Bei der Suche nach diesem Täter schien sich auch wirklich alles gegen sie verschworen zu haben.
Dann stieg Sachs in den Tyvek-Overall, streifte sich Gummiringe über die Schuhe, nahm Fotoapparat und Plastiktüten und fing mit der Arbeit an, zunächst bei den Überresten von Carlos’ Behausung. Sie ließ sich Zeit und suchte sorgfältig. Nach den Erfahrungen dieses anstrengenden, schrecklichen Tages würde sie nichts mehr unbesehen glauben. Sicher, der Hexer lag eventuell in zwölf Metern Tiefe unter der graubraunen Wasseroberfläche. Doch genauso gut war es möglich, dass er jetzt irgendwo in der Nähe wohlbehalten das Ufer erklomm.
Es hätte sie nicht einmal überrascht zu erfahren, dass er bereits meilenweit von hier entfernt war und in neuer Verkleidung dem nächsten Opfer auflauerte.
Reverend Ralph Swensen hielt sich seit einigen Tagen – und zum ersten Mal – in New York City auf und hatte erkannt, dass er sich wohl nie an diese Stadt gewöhnen würde.
Der schmächtige Mann, mit schütterem Haar und von eher zurückhaltender Natur, stand einer Gemeinde vor, die tausendfach kleiner als Manhattan und Dutzende von Jahren davon entfernt war.
Wenn er zu Hause aus dem Kirchenfenster schaute, sah er wogende, schier endlose Hügel, auf denen friedliche Tiere grasten. Vom vergitterten Fenster des billigen Hotelzimmers in der Nähe Chinatowns fiel sein Blick auf eine Backsteinmauer, auf der in grauer Sprühfarbe eine Obszönität stand.
Wenn er zu Hause die Straße entlangging, sagten die Leute »Hallo, Reverend« oder »Tolle Predigt, Ralph«. Hier sagten sie »Gib mir ’nen Dollar« oder »Ich hab AIDS« oder einfach »Leck mich«.
Aber egal, Reverend Swensen würde nicht lange bleiben, und so hoffte er, den Kulturschock unbeschadet überstehen zu können.
Während der letzten paar Stunden hatte er versucht, in der uralten zerfledderten Gideon-Bibel zu lesen, die hier zum Inventar gehörte. Doch schließlich gab er es auf. Das Matthäusevangelium mochte noch so verlockend sein, es konnte nicht den Lärm des Strichjungen übertönen, der nebenan mit einem
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