Der Favorit der Zarin
Mutter!«
Fandorin hörte sich die Klagen der Armen an und dachte aus professionellen Gründen darüber nach, was er ihr denn raten würde. Das war gar nicht so einfach. Aber Syssoj hatte keinerlei Probleme damit.
»Hand an sich legen, das darf man nicht. Das ist eine Sünde«, sagte er streng. »Wehe, du denkst auch nur daran. Gott hat das Leben geschenkt, damit wir es ganz durchleben, bis ins Alter, egal wie das im Einzelnen aussieht. Die Alzheimer-Krankheit ist eine besondere Gnade Gottes. Beim Säugling erwacht die menschliche Seele ganz allmählich und gewöhnt sich an den Leib, im Alter dagegen entwöhnt sich die Seele des Leibes und bereitet sich auf den Schlaf vor. Aber von wegen Schlaf, in Wirklichkeit handelt es sich ja um ein Erwachen. Guck mal, was deine Mutter für ein Glück gehabt hat. Sie hat gar nicht gemerkt, wie sie von diesem Leben in jenes einging. Und genauso wird es bei dir sein. So dass man dich um dein leichtes Schicksal nur beneiden kann. Was ist denn schlecht daran, wenn man Zeichentrickfilme guckt? Wer es schwer haben wird, das sind deine Angehörigen, die dich lieben.«
Man hörte schnelle Schritte. Der Grauhaarige trat aus der Zelle. Sein Gesicht zitterte und Nicholas wurde klar, dass dieser Mann seine aufgetakelte Alte wirklich liebte. Weshalb war unklar, aber man kam um die Tatsache, dass er sie liebte, nicht herum.
»Komm, Sina«, sagte der Mann. »Ich habe dir ja gesagt, das ist reine Zeitverschwendung. Fünfhundert Kilometer hin und fünfhundert Kilometer zurück, alles für die Katz. Wir fahren in die Schweiz. Ich habe gehört, dass man da ein neues Mittel gefunden hat. Es heißt Amildetox.«
Die Frau stand auf, ohne zu murren, und kam heraus, ihr Gesicht war nicht mehr weinerlich, sondern eher nachdenklich.
Der Grauhaarige aber konnte sich partout nicht beruhigen. Er fuchtelte zornig mit den Händen herum und sagte zu Syssoj:
»Das ist Unsinn, heiliger Vater. Eine Kapitulation vor sich selber und vor dem Leben. Wenn mich der Tod ereilt, dann wird er das im Galopp tun – ich werde einfach aus dem Sattel kippen! Haben Sie meine Muskeln gesehen?« Er zog den Ärmel seines Kaschmirpullis hoch und stellte seinen kräftigen, sehnigen Arm zur Schau. »Seit ich vierzig wurde und mir zum ersten Mal aufging, dass ich nicht mehr so jung bin, habe ich es mir zur Regel gemacht, jeden Morgen eine Stunde Gymnastik zu treiben, zu der mindestens vierzig Kniebeugen gehören. Und seit diesem Zeitpunkt mache ich jedes Jahr eine Kniebeuge mehr und trotze so dem Alter. Jetzt mache ich Sechsundsechzig, ab dem ersten Januar werden es siebenundsechzig sein. Außerdem mache ich Gewichtheben und im Winter tauche ich in einem Eisloch. Meinen Sie, das ist leicht? Nein, es ist schwer und wird mit jedem Tag schwerer. Irgendwann werde ich bei der Gymnastik einen Herzschlag kriegen. Und ich bin darüber heilfroh!«
Syssoj trat aus der Zelle und kreuzte die Finger auf seinem großen Bauch.
»Und was wird dann aus deiner Frau? Wer braucht sie schon außer dir? Wer wird für sie das Kindermädchen spielen und ihr die Zeichentrickfilme einschalten? So dass ich dir, Knecht Gottes, raten würde, es mit den Kniebeugen nicht zu übertreiben. Möge der Herrgott euch beide behüten!«
Er schlug ein Kreuz und lockte Fandorin mit dem Finger, was heißen sollte: Komm rein.
Er sagte zu dem Novizen:
»Kescha, komm, geh essen. Und schalte das Diktiergerät aus, das brauchen wir nicht.«
Als die Geschäftspartner allein waren, drückte Syssoj den Gast fest an seine weiche Brust und fragte halblaut:
»Wollen Sie wissen, Nikolaj Alexandrowitsch, was das Schwierigste an der christlichen Lehre ist? Alle Menschen gleich zu lieben – egal, ob sie dir nahe oder fern stehen. Das gelingt mir noch nicht. Herr, ich bin sündig.« Er bekreuzigte sich reuig. »Alle zu lieben, das gelingt mir schon, aber die einen liebe ich bisher eben mehr als die anderen. Zum Beispiel Sie. Kommen Sie, setzen wir uns und sprechen miteinander wie in alten Zeiten. Wie schön, dass Sie gekommen sind! Alle kommen und geben mir Rätsel auf, aber ich selber habe auch eine Frage. Wer könnte darauf antworten, wenn nicht Sie?«
Sie setzten sich und schwiegen. Nicholas wartete auf die Frage. Syssoj druckste herum und legte dann endlich los:
»Meinen Sie, ich hätte, sobald ich an Gott glaubte, gleich beschlossen, in einer Höhle zu wohnen? Ich wäre nie im Leben auf die Idee gekommen. Wenn mir das jemand prophezeit hätte, wäre ich vor Lachen
Weitere Kostenlose Bücher