Der Favorit der Zarin
weißt nicht, wozu du auf der Welt bist? Du bist vielleicht komisch!«
Die Dame hatte ihren Nerz auf dem Schoß und zupfte nervös an ihrem Spitzentüchlein mit Monogramm. Sie nickte Fandorin wie einem Bekannten zu und flüsterte:
»Bei uns wird es später. Die Frau, die vor uns an der Reihe ist, ist immer noch nicht gegangen.«
»Pst«, zischte ihr Mann, der das Gespräch in der Zelle mithören wollte.
Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Spott und Staunen, wobei Letzteres aber überwog.
»Ich weiß es wirklich nicht, Vater«, versicherte eine verzagte Frauenstimme, »wozu bin ich geboren, wozu habe ich so viele Jahre gegessen, geschlafen und gearbeitet? Wozu habe ich geheiratet, wozu vier Kinder auf die Welt gebracht? Wer braucht sie denn, wer braucht mich? Der Grund, warum ich zu Ihnen gekommen bin, ist folgender. Ich habe einen Gedanken, der mich nicht in Ruhe lässt. Ich bin mit sieben Jahren an Tuberkulose erkrankt. Alle dachten, ich sterbe. Doch ich hatte gute Ärzte und habe überlebt. Aber ich denke jetzt: Wozu habe ich überlebt? Wenn ich damals gestorben wäre, wäre das für alle besser gewesen und in erster Linie für mich selbst. Ich habe keinen Funken, kein Talent. Ich habe niemals Freude am Leben gehabt, und das Leben hat keine Freude an mir.«
»Das stimmt«, schloss sich der Greis mit Vergnügen an. »Ich rede jetzt eine Stunde mit dir und sehe, wie langweilig und dumm du bist. Du jammerst immer und jammerst – mir tut davon schon mein Zahn unter der Krone weh. Dabei hast du dein Leben gar nicht umsonst gelebt.«
Die Pilgerin entgegnete lahm: »Das sagen Sie ja nur aus Güte, um mich zu trösten.«
»Nein, Magd Gottes, ich neige nicht dazu, etwas zu sagen, was aus der Luft gegriffen ist, das verbietet mir mein Background.«
»Was ist das denn?«
»Es passt nicht in meine Biographie, etwas einfach so daherzusagen, verstehst du? Wie kann denn dein Leben umsonst sein, wenn du vier Kinder auf die Welt gebracht hast? Weißt du, was ein Kind ist, du Dummerchen? Das ist eine besondere Chance, seinem Leben einen Sinn zu geben. Ein Lotterieschein mit garantiertem Gewinn. Vielleicht ist dein Leben nicht gelungen, vielleicht bist du ein Wesen, das zu nichts nutze ist, aber wenn du ein Kind auf die Welt gebracht hast, spielt das absolut keine Rolle mehr. Verstehst du das?«
»Nein, Vater, das verstehe ich nicht.«
»Puh, du bist aber wirklich ganz schön dumm«, ereiferte sich Syssoj. »Ich habe es dir doch wirklich klipp und klar auf Russisch gesagt: Das ist ein Lotterieschein, kapiert? Vielleicht hat dich der Herrgott deshalb gerettet, damit du ein Kind auf die Welt bringst, ein solch ungewöhnliches, wie es noch nie eins gegeben hat? Vielleicht wird durch dein Kind die ganze Welt besser! Und dabei hast du gleich vier Lotteriescheine, und kannst mit jedem eine Greencard gewinnen und zwar keine für Amerika, sondern für das Paradies!«
»Alles wegen der Kinder?«, fragte die Pilgerin zweifelnd. »Mein Ältester sitzt im Gefängnis, zum dritten Mal. Saschka, der zweite Sohn, wollte nicht studieren und ist jetzt bei der Armee. Er ist dumm wie Bohnenstroh. Und die Töchter, die beiden Zwillinge Olga und Ira? Die sind erst dreizehn und treiben sich in wilder
Kriegsbemalung herum. Ich wäre heilfroh, wenn ich das nicht mitbekäme.«
Der Greis lachte und sagte:
»Dass sie sich schminken, dagegen ist doch nichts einzuwenden! Sie suchen Liebe. Was soll denn daran schlecht sein? Und dass dein Saschka strohdumm ist, macht auch nichts. Vielleicht wird er ja noch klug, aber Klugheit ist nicht die Hauptsache. Und auch den Ältesten solltest du nicht aufgeben. Der Herrgott wirkt alle möglichen Wunder, es gibt Menschen, denen gerade im Gefängnis ein Licht auf geht. Weißt du was, Natalja Wolosjuk, komm in zehn Jahren wieder. Und dann erzählst du mir, wozu es all deine Kinder gebracht haben. Dann können wir über den Sinn des Lebens sprechen. Kescha, notier den Termin: 15.11.2011.«
Man hörte schnell klickende Tasten, und Fandorin, der glaubte, sich verhört zu haben, spähte durch die offene Tür. Es konnte doch wohl nicht sein, dass hier jemand am Computer saß?!
Doch es war wirklich so. Ein junger Bursche in schwarzer Kutte ratterte in einer Ecke der Zelle mit der Tastatur. Der Greis und seine Gesprächspartnerin saßen am Tisch, und zwischen ihnen stand ein Diktiergerät, dessen Lämpchen rot aufleuchtete. Die Frau sah Nicki sich gar nicht an, ihn interessierte nur der Greis. Sein
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