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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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gegeben! Oder richtet man sich bei euch nach der Kleidung, genauso wie in der Welt draußen?«
    »Wir haben zwei Wartelisten, eine für Hilfe und eine fürs Gebet. Das Gebet wollen nur wenige, Hilfe ist immer mehr gefragt, deshalb ist da die Liste auch länger.« Er inspizierte die unansehnliche Hose des Pilgers, an der überall Wattebällchen hingen, und sagte streng: »Eins müssen Sie wissen, der Greis hilft niemandem umsonst. Er hat mir befohlen, schick Leute, die kein Geld haben, zum Teufel. Der Greis kennt den Wert des Geldes, er war im zivilen Leben Bankier.«
    Fandorin wunderte sich. Hieß das, der Patron versteckte seine frühere Tätigkeit nicht und schämte sich ihrer auch nicht?
    »Ich brauche kein Geld. Ich muss einfach mit ihm reden. Wir sind alte Bekannte, ja sogar Freunde. Sagen Sie ihm: Fandorin ist da.«
    Der Klosterbruder gähnte und machte schnell ein Kreuzzeichen über seinen Mund.
    »Der Greis hat jetzt nur noch Freunde, egal, ob sie ihm bekannt sind oder nicht. . . Wenn Sie nicht wegen finanzieller Hilfe kommen, dann trage ich Sie in die Warteliste fürs Gebet ein. Kommen Sie um zwei Uhr dreißig wieder. Der Nächste bitte!«
    Die Klause hatte folgende Anlage: eine »Höhle«, wo der Greis wohnte, eine Hütte für den Bruder, ein Gasthaus für die Pilger, bestehend aus zwei Hälften, einer für die Männer und einer für die Frauen, und einen Wirtschaftsblock mit einem eigenen kleinen Kraftwerk. Alle Bauten waren aus glatt gehobelten Balken und hatten Dächer mit fröhlichen grünen Ziegeln. Es gab keine Kirche oder Kapelle auf dem eingezäunten Gelände – nur eine Ikone des Erlösers, und auch die befand sich an einer seltsamen Stelle: Sie war an einer Kiefer befestigt. Über der Ikone hing ein schräges Vordach gegen den Regen, an der Seite schützten sie Bretter, kurz, das Ganze sah aus wie ein Vogelhäuschen.
    Das Rätsel klärte sich bei Tisch, als Fandorin mit den anderen Pilgern magere Kohlsuppe und einen Brei aß (die beiden simplen Gänge schienen dem ausgehungerten Magister ungewöhnlich wohlschmeckend). Die Leute, die neben ihm an dem langen Brettertisch saßen, erklärten, der Greis sei gar nicht in einen Orden eingetreten und auch nicht zum Priester geweiht. Er segnete die Leute nicht, die zu ihm kamen, weil das gar nicht in seiner Macht stand, sondern betete einfach zusammen mit ihnen, was vielen half. Ein gehässiger Typ, der aus Petersburg angereist war, um zu beten, behauptete, dass die Kirchenleitung anfangs den Gläubigen sogar verboten habe, sich an den Greis im Wald zu wenden, und sich dieser Zorn erst dann in Wohlwollen verwandelt habe, nachdem Syssoj eine Million für eine Ikonenfabrik spendete. Zwar bezeichneten andere Pilger diese Information als böse Erfindung und Verleumdung, was zu einem kleinen Streit im Esssaal führte, aber er legte sich schnell. Die festliche, wohlige Stimmung der Gekommenen überwog.
    Zeuge zu sein, wie man von einem Geschäftspartner, den Nicki von einer ganz anderen Seite kannte, mit ersterbender Stimme und Ehrfurcht sprach, war seltsam. Kann sich denn ein Mensch so sehr ändern? Zwar hatte er sich nicht erst gestern für religiöse Dinge interessiert und die Lust, Unternehmer zu sein, verloren. Im letzten Jahr seines weltlichen Lebens hatte der Partner ein zurückgezogenes Leben geführt, und sie hatten sich überhaupt nicht mehr getroffen. Aber der Abstand zwischen einem frommen Geschäftsmann und einem im Wald lebenden Einsiedler war doch entschieden zu groß. Er war so jovial gewesen, hatte gern getrunken und gegessen und sollte dann auf einmal ein Heiliger geworden sein, zu dem man von weitem anreist, damit er für einen betet und einem hilft?
    Zu beten konnte Nicholas natürlich nicht schaden, aber es wäre entschieden besser, tatkräftige Hilfe zu bekommen. Früher, als Syssoj noch nicht Syssoj war, hätte er wohl kaum für ihn gebetet, aber geholfen hätte er mit Sicherheit. . .
    Fürchterlich aufgeregt, stieg Fandorin um Punkt halb drei die Freitreppe der so genannten Höhle hoch, die realiter ein prächtiges, schmuckes Häuschen mit weißen Vorhängen vor den Fenstern war.
    Es stellte sich heraus, dass er zu früh gekommen war. Das Ehepaar, das um zwei an die Reihe hätte kommen sollen, wartete noch – es saß in der Diele –, und aus der offenen Tür der Zelle drang die leise, Nicholas wohlbekannte Stimme, die einen leichten kaukasischen Akzent hatte.
    ». . . Was heißt hier › wozu ‹ ?«, fragte die Stimme verwundert. »Du

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