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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Geschäftspartner hatte sich einen prächtigen halb schwarzen, halb grauen Bart wachsen lassen, statt des italienischen Anzugs trug er einen alten schwarzen Mantel, doch diese Metamorphose war eigentlich auch alles. Die Körperfülle des früheren Vielfraßes war nicht geschrumpft – es waren wohl immer noch dieselben 125 Kilo, und auch die lebhaften schwarzen Augen glänzten wie früher.
    »Ach, Nikolaj Alexandrowitsch!«, rief der Greis nicht verwundert, sondern freudig aus. »Das ist ja toll! Ich habe für Sie Gottlosen gebetet, aber dass Sie herkommen, hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen.«
    »Ich soll also in zehn Jahren wiederkommen, Vater?«, fragte die Pilgerin und stand auf.
    Sie beugte sich vor, drückte dem Einsiedler einen schmatzenden Kuss auf die füllige Hand und trat den Rückzug an.
    »Weißt du, wer das ist, Innokenti?«, sagte der Greis, an seinen Gehilfen gewandt. »Das ist der Mann, der mir einmal einen rich-tigen Rat gegeben hat, auf den hin ich den ersten Schritt in die richtige Richtung getan habe. Um einen Weg von zehntausend Li zurückzulegen, muss man mit einem Schritt in der richtigen Richtung anfangen, so sagt man in China. Weißt du, was ein Li ist?«
    »Ja, weiß ich, Vater«, antwortete Innokenti, der eine Brille trug, mit gelassener Stimme, »eine Längeneinheit, die vier Kilometern entspricht.«
    Diese Angabe ist falsch. Lt. Brockhausist Li eine Längeneinheit in China, Korea und Annam (Vietnam). Das chinesische Li entspricht 576,496 m, das Annams 444 m, und das koreanische 403 m, d. h. nicht 4 Kilometer, sondern 0,4 Kilometer. Ich bin dafür, trotzdem die Version des Autors beizubehalten. Nobody is perfect. (Anm. der Übersetzerin)
    »Das sind insgesamt vierzigtausend Kilometer, das heißt, die Länge des Äquators. Unendlich viele also.« Syssoj sprach wie ein Schulmeister. »So einen unendlich wertvollen Rat hat mir mein Freund Nikolaj Alexandrowitsch Fandorin gegeben.«
    Der Novize warf einen ehrfürchtigen Blick auf Nicki und verneigte sich tief.
    Das war der ideale Moment, wo er sofort zur Sache hätte kommen können, aber da schaute der grauhaarige Skeptiker herein und polterte los:
    »Moment mal. Wieso kommt dieser Milizionär außerhalb der Reihe dran?«
    Er musste rausgehen. Das war im Grunde noch besser: Nicholas war der Letzte vor der Mittagspause, auf diese Weise würde ihnen kein Unbefugter zuhören können. Er setzte sich auf die Bank, um zu warten, und hörte, ohne es zu wollen, das Gespräch mit an.
    »Heiliger Vater, mir ist ein Unglück zugestoßen«, jammerte die Frau, »ich habe eine schreckliche Krankheit, gegen die die moderne Medizin machtlos ist. Die Alzheimer-Krankheit, vielleicht haben Sie davon gehört? Vereinfacht gesagt, Altersschwachsinn.«
    »Ich weiß, ich weiß«, reagierte Syssoj, »Ronald Reagan hatte das auch.«
    »Wer?«, fragte die Pilgerin verwundert.
    Ihr Mann klärte sie gereizt auf:
    »Der frühere Präsident von Amerika. Ein Hollywood-Schauspieler. Weißt du noch, als er in Moskau zu Besuch war, sind wir zu einem Empfang gegangen. Du hast die ganze Zeit auf das Kleid seiner Frau gestarrt.«
    »Nein, weiß ich nicht mehr . . .«
    Es folgte eine Pause, in der sie schniefte und schluchzte.
    »Ach so«, besann sie sich auf einmal. »Entschuldigt, Vater, ich habe vergessen, meine Ohrringe auszuziehen. Man darf hier bestimmt keine Brillanten tragen, an diesem heiligen Ort! Ich zieh sie sofort aus!«
    »Macht nichts«, beruhigte sie Syssoj. »Das sind ja keine Brillanten, die der Heiligkeit im Weg stehen. Das sind doch maximal anderthalb Karat, oder? Kein Problem. Magd Gottes, komm zur Sache, ich will Mittag essen. Unser Leib stammt von Gott, wir dürfen ihn nicht missachten.«
    »Retten Sie mich, Vater! Wir haben alle medizinischen Mittel ausprobiert! Drei Stunden am Tag lege ich diese . . . Na, wie heißen sie noch? . . . diese Dingsbumse vor die Ikone. Ich spende Geld, und zwar viel. Ich habe meinen Mann überredet, mich zu Ihnen zu bringen. Man erzählt über Sie reine Wunder! Ich bin erst sechzig, Vater . . .«
    »Vierundsechzig, das hast du vergessen«, korrigierte ihr Mann.
    »Ja, ja, entschuldigen Sie, vierundsechzig! Ich habe schlechte Erbanlagen, meine Mutter hatte das auch. Ihre letzten Jahre waren ein Albtraum! Sie hat Kinderlieder gesungen und im Fernsehen nur noch Zeichentrickfilme über Tscheburaschka und Winnie Puh geguckt. Ich möchte kein Idiot werden! Ich lege lieber Hand an mich als so zu werden wie meine

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