Der Favorit der Zarin
gestorben. Was war zuerst? Ich wollte weniger Böses und mehr Gutes tun, das war alles. Alle Menschen zu lieben, war nicht mein Anliegen, Ehrenwort. Ich habe ja früher nach einem anderen Gesetz gelebt. Als ich sieben Jahre alt war, hat mir mein großer Bruder gesagt: › Wenn du ein Mann bist, lass keinen an deinen A. . . bend. ‹ Nein, ich kann dieses Wort nicht in den Mund nehmen, ich bin immerhin ein Einsiedler. Lass dich also nicht erkennen wie Eva in der Bibel, sondern erkenne du die anderen. Nach dieser Devise habe ich früher gelebt, als ich noch nicht an Gott glaubte. Jemanden erkennen und jemanden lieben, das sind, wie man in Odessa so schön sagt, zwei dicke Unterschiede. Wie sich herausstellt, braucht man gar nicht jemanden zu erkennen. Man muss ihn lieben! Das ist alles, basta.«
»All you need is love?«, sagte Nicholas und nickte. »Als ich ein Kind war, kam dieses Lied aus allen Lautsprechern. Ich weiß noch, wie ich zuhörte und dachte: Wie neu, wie einfach und wie richtig das doch ist! Man muss nur alle in seine Liebe einbeziehen, wieso verstehen die Leute das denn nicht? Als ich älter wurde, erkannte ich, dass das absolut nichts Neues war. Man kann alle Menschen einteilen in die, die sagen: Liebe die anderen auch dann, wenn sie dir nichts Gutes getan haben, und in die, die darauf beharren: Lass dich nicht verarsch . . . Und das ist noch nicht das, was am traurigsten ist, denn man sieht, wenn jemand das sagt, ja sofort, wer gut und wer schlecht ist. Aber wie oft ist es in der Geschichte vorgekommen, dass die Bösen die Liebe predigten? Und sie brachten allen die Liebe bei und zwangen die Leute mit Gewalt zu lieben und töteten die, die nicht oder anders lieben wollten.«
»Ach, warum muss man von ihnen sprechen?«, fragte Syssoj, winkte verärgert ab und sagte: »Was kann es denn für eine Liebe geben, wenn du kein Mitleid mit den Menschen hast? Mich bringt mein Mitleid noch um. Zuerst fingen mir meine ganzen Bekannten an, Leid zu tun. Die einen sind arm dran, denn sie sind unglücklich. Die Glücklichen wiederum sind arm dran, weil ihr Glück nicht ewig währen kann. Mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Mein Mitleid erstreckte sich auch auf Geschäftsleute, mit denen ich zu tun hatte. Ich wickelte sie um den Finger, ging mit ihnen um wie mit den letzten Idioten, aber es machte mir nicht mehr so viel Spaß wie früher. Schade. Daraufhin habe ich mich auch vom Management zurückgezogen und einen Trust gegründet. Ich hatte nicht Angst vor einer Pleite, sondern die Leute, die für mich arbeiteten, taten mir Leid. Wohin sollten sie denn gehen, wovon sollten sie leben? Das war das Ende. Die Armen tun mir Leid, die Kranken tun mir Leid, die Kinder tun mir Leid, die Alten tun mir Leid, die Bewohner Schwarzafrikas tun mir Leid . . . Und das nicht nur momentan, sondern immer. Da beschloss ich, mich an einen stillen Ort zurückzuziehen, wo ich die ganze Menschheit von morgens bis abends bemitleiden konnte, nur im Schlaf nicht. Zwar fingen sie schon an, mir auch in der Nacht Leid zu tun, ich hatte wirklich entsprechende Träume. Dann wurde mir auch die Menschheit auf einmal zu wenig. Da fingen die Tiere an, mir fürchterlich Leid zu tun. Wie kommen wir dazu, sie zu schlachten und ihnen das Fell abzuziehen? Das ist Sünde. Ich hörte auf, Fleisch zu essen. Wissen Sie noch, wie gern ich früher Schaschlik und Saziwi gegessen habe? Fisch kann ich auch nicht essen. Ich stelle mir sofort vor, wie diese stummen Wesen mit den Glotzaugen dahinschwimmen und die Lippen bewegen, und auf einmal erwischt sie von oben das Netz, und sie werden aufs Deck geworfen, wo sie keine Luft kriegen . . . Brrr!«
Der Greis schüttelte sich und fragte dann auf einmal ängstlich:
»Nikolaj Alexandrowitsch, ich habe über das Internet herausgefunden, dass auch Pflanzen Schmerz empfinden, dass sie ebenfalls lieben und hassen können. Zu dem einen Gärtner fühlen sich die Pflanzen hingezogen, von einem anderen wenden sie sich ab. Meinen Sie, das stimmt?«
»Keine Ahnung.«
»Wenn das stimmt, bin ich erledigt«, stellte Syssoj traurig fest. »Dann verhungere ich glatt. Wenn ich das Gefühl bekomme, Kohl und Möhren müssten mir Leid tun, dann bin ich geliefert. Ach, Nikolaj Alexandrowitsch, Güte ist eine gefährliche Sache, wenn man so ungehemmt danach strebt wie ich. Bei Ihnen ist das anders, Sie sind in allem maßvoll.«
Diese Worte, die Fandorin absolut nicht als Kompliment verstand, kamen ihm ehrfürchtig über die Lippen,
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