Der Favorit der Zarin
könnte sich mit beiden Händen in das Steuer verkrallen und es in seine Richtung drehen, um den in einem Wahnsinnstempo dahinrasenden Wagen in den Straßengraben zu setzen. Weiter würde dann der Herrgott entscheiden, ob er alle Insassen zu sich nehmen und richten sollte oder ob er ein Wunder wirken und jemand am Leben lassen wollte.
Dieser verrückte Gedanke ließ seine Angst ein wenig in den Hintergrund treten.
»Wir werden das eher nicht tun«, sagte die Venus nachdenklich. »Sie umzulegen, würde bedeuten, dass man die verlorene Zeit in unproduktive Ausgaben investiert, und das mache ich gewöhnlich nicht.«
Sie betrachtete Nicholas mit einem so langen taxierenden Blick, dass er wieder erstarrte. Diese Psychopathin, wie konnte sie bei einer Geschwindigkeit von 190 denn noch auf den Weg achten?
»Sie werden erst Ihre Schuld abarbeiten müssen, und dann sehen wir weiter.« Ohne den Kopf zu drehen, ruckte die Venus ein bisschen am Steuer, um ein schmales, aber recht tiefes Schlagloch zwischen die Räder zu kriegen. »Sie haben folgende Schulden. Erstens: vier Arbeitstage von mir. Zweitens: Sie haben einen meiner Gehilfen erschossen. Na und drittens: Ihretwegen hat der Hauptmann der Moskauer Kriminalpolizei eine Kugel abgekriegt, das wird noch Ärger geben. Die Endsumme ist keine Kleinigkeit.«
»Wie hoch ist sie denn?«, erkundigte sich Fandorin, der durch den Übergang auf die Sprache der Buchhaltung wieder Hoffnung schöpfte. »Ich bin nicht reich, aber wenn wir uns auf Ratenzahlungen einigen könnten . . .«
Die grausame Göttin sagte, kurz und böse lachend:
»Sie sind daran schuld, dass ich mich vor dem Auftraggeber blamiert habe. Mein Ruf hat gelitten, und bei dem Beruf, den ich ausübe, ist die Reputation das A und O. So einen Verlust kann man nicht mit Geld kompensieren. Sie haben Ihr Leben verwirkt, Nicki.«
Aus dem Mund dieser schrecklichen Frau klang die vertraute häusliche Anrede »Nicki« so befremdlich, dass Fandorin erzitterte. Sie lächelte auf einmal und nickte ihren Gedanken zu. Dann murmelte sie:
»So . . . so . . . und so . . . Ein kluges Mädchen.«
Man hatte den Eindruck, die Lenkerin von Nicholas’ Geschicken entwürfe gerade einen Plan.
Fandorin rutschte nervös hin und her und schaute sich um – die beiden Pistoleros saßen reglos da. Die Plattnase schaute gleichgültig aus dem Fenster, während der Zweite, vor dem Nicki früher solche Angst gehabt hatte, ihm im Vergleich mit der brutalen Venus gar nicht mehr so schrecklich erschien. Jedenfalls strahlten die Augen dieses Banditen etwas Menschliches aus – Mitleid oder so etwas Ähnliches. Und er dachte: Die Repräsentantinnen des schönen Geschlechts sind im Allgemeinen natürlich besser als die Männer: weicher, gütiger, barmherziger, aber wenn eine Frau einmal ein Ausbund des Bösen ist, dann steckt sie auf Garantie jeden männlichen Bösewicht in die Tasche.
»Mirat sucht eine Gouvernante für sein Aschenbrödel-Töchterchen«, sagte dieser Ausbund des Bösen in einem Ton, als wäre die Rede von gemeinsamen Bekannten.
»Was?«, fragte Nicholas erstaunt.
Sie redete weiter, ohne die Frage zu beachten. Es wurde klar, dass sie keinen Wert auf einen Dialog legte, sie dachte nur laut.
»Ein zweisprachiger Engländer und dann auch noch ein echter Baronet. Inga wird begeistert sein. Keiner hat sonst so einen Gouverneur, ihre Freundinnen werden vor Neid platzen. Und wer soll sie auf diese Idee bringen, damit sie nicht den wahren Sinn errät? Die Agentur, das ist doch nahe liegend. Sie hat ihr ja einen entsprechenden Auftrag erteilt. Nichts leichter als das. Fandorin, alles klar, Sie werden Gouverneur.«
»Ich? Gouverneur?«, fragte er fassungslos. Er hatte alles Mögliche erwartet, selbst den Befehl, einen Mord zu begehen, aber bestimmt nicht eine so harmlose Aufgabe. »Und wo?«
»In der Familie eines reichen Typs. Sie werden seiner heißgeliebten Tochter Englisch und gute Manieren beibringen. Sie sind doch ein Gentleman, oder?«, erkundigte sie sich lachend.
»Und was muss ich da noch machen?«, fragte Nicholas, der verstehen wollte, wo der Haken war.
Das Lächeln verschwand nicht von ihrem Gesicht, aber ihre Stimme wurde hart:
»Alles, was ich sage. Wenn ich es befehle, dann musst du nachts in Mirats Schlafzimmer gehen und ihm mit den Zähnen die Kehle durchbeißen. Wenn ich es befehle, musst du Ingas Schoßhündchen bumsen. Alles klar?«
Der Übergang zur offenen Aggression und Grobheit war so abrupt, dass Nicki
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