Der Favorit der Zarin
Junge im hohen Bogen in den Straßengraben.
Da lockerte der Aufseher den Stahlgriff um Nicholas, sie schauten sich beide um und sahen, wie der Kleine neben dem umgefallenen Fahrrad auf dem Boden saß, dem Jeep wütend mit der Faust hinterher fuchtelte und schrie. Er lebte Gott sei Dank!
Der mit der platten Nase, der sich ebenfalls nach hinten umgeschaut hatte, nahm wieder seelenruhig seine frühere Haltung ein. Max’ Kinn dagegen zuckte kurz, seine Wimpern zitterten etwas, und als er den Hals des Gefangenen wieder umschloss, hielt er ihn sehr viel lockerer als vorher.
»So mache ich das mit Ihrem pummeligen Erast«, erklärte Jeanne. »Der einzige Unterschied ist, dass mir dann keiner ins Steuer greifen wird. Ist das angekommen? Ja? Sonst demonstriere ich es ein zweites Mal. Diese Gegend ist so verschlafen, dass man die ganze Bevölkerung überfahren kann, da kräht kein Hahn nach.«
Vor ihnen strampelte eine ganze Schar kleiner Radfahrer, die sich möglichst dicht am Straßenrand hielt. Vielleicht war eine Schule in der Nähe.
»Halt ihn fest«, befahl Jeanne und beschleunigte.
Max schluckte, führte den Befehl aber aus.
Und Nicholas hatte wieder dieselbe Vision, nur in der umgekehrten Reihenfolge.
Er sah zuerst die dreckige Binde der Landstraße, über die wacker eine fette, glänzende Fliege im Eiltempo kroch. Der Zoom vergrößerte das Bild, und die Fliege wurde zu einem Auto. Man sah das Innere des Autos: vier Menschen, Nickis verzerrtes Gesicht. Dann schrumpfte die Welt auf Nickis Körpergröße, und es wurde klar, dass diese kleine Welt mit ihrer niedrigen Zahl von Einwohnern: Altyn, Gelja, Erast, sehr viel wichtiger war als die große. Ohne die große Welt konnte man leben, ohne die kleine nicht.
Und Fandorin sagte schnell:
»Ja, ja.«
»Eben«, sagte Jeanne spöttisch. »Mit Ihren Prinzipien kommen Sie da nicht weit. Ein Mensch, der nicht bereit ist, alles für seine Prinzipien zu opfern, hat kein Recht, Nein zu sagen.«
Der Verpflichtung, die sie übernommen hatte, kam sie nach: den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie mit dem Letzten der kleinen Radfahrer zusammenzustoßen drohte, drehte sie das Steuer ein wenig zur Seite.
Der kurze Augenblick der Erleichterung in einer Reihe dicht hintereinander folgender Albträume: das ist das wahre Glück, begriff Nicholas auf einmal. Und war im Verlauf der folgenden Sekunden wirklich so glücklich, wie es ein Mensch nur sein kann.
VIERZEHNTES KAPITEL
LA PRÉCAUTION INUTILE oder
DIE NUTZLOSE VORSICHT
(Beaumarchais, 1775, Rossini, 1816)
»Ihr habt Glück, dass ich es eilig habe!«, brüllte der Kollegienrat, dem offenbar der Geduldsfaden gerissen war. »Bei uns in Nowgorod macht man kurzen Prozess mit solchen Ignoranten. Ich rufe die Polizisten, die bringen ihn ins Revier und brennen ihm fuffzig auf den Hintern. Die scheren sich nicht darum, dass einer einen Gehrock anhat.«
»Ihr wollt mir doch wohl nicht damit drohen, mich auspeitschen zu lassen?«, erkundigte sich Vondorin ungläubig.
Man hörte zwei Laute: einen kurzen knackenden und einen zweiten länger gezogenen, als ob etwas Schweres hingeplumpst wäre und weiterrollte.
Der Deckel des verfluchten Korbes öffnete sich, und kräftige Hände holten Mitja aus der Falle.
»Bist du unversehrt, Dmitri?«, fragte Daniel ängstlich und tastete schnell den befreiten Gefangenen ab.
Der stammelte bejahend, hatte aber noch den Knebel im Mund. Als er ihn herausgenommen hatte, zeigte er auf den reglos ausgestreckten Körper und fragte:
»Habt Ihr ihn getötet?«
Vondorin hob vorwurfsvoll die Hände und sagte:
»Du weißt doch, dass ich ein überzeugter Gegner vorsätzlichen Mordes bin. Nein, ich habe wieder die englische Technik angewandt, nur nicht die des Stab-, sondern die des Faustkampfes. Sie heißt › Boxen ‹ und ist sehr viel humaner als das bei uns übliche Stechen beim Fechten.«
Er drehte den am Boden liegenden Beamten um und versetzte ihm einen kurzen, kräftigen Tritt in die Leistengegend. Mitja schrie auf und hockte sich hin: Sein Bruder Endimion hatte ihm einmal mit dem Knie einen zwischen die Schenkel gegeben, und zwar nicht mit ganzer Kraft, sondern ganz leicht. Es hatte entsetzlich wehgetan.
»Warum macht Ihr das?«
»Zu seinem Besten.« Daniel fasste Mitja an den Schultern und brachte ihn zurück in den Gasthof. »Weißt du, Dmitri, es gibt auf der Welt lüsterne Ungeheuer, die kleinen Jungen nachstellen. Seitdem ich meinen Sohn verloren habe, bin ich in dieser Beziehung
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