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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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zurückwich.
    »Hören Sie, wie hei. . .«
    »Na, nehmen wir an: Jeanne«, antwortete sie und lachte wieder über etwas.
    »Hören Sie, Jeanne, ich bin kein Zombie und tue nichts, was gegen meine Prinzipien ist. Da können Sie mich gleich aus dem Auto schmeißen!«
    »Sie wollen den Mops also nicht bumsen!«, fasste sie zusammen. »Und Sie wollen dem unbekannten Typen auch nicht die Kehle durchbeißen? Sie haben Prinzipien. Das verstehe ich sehr gut! Natürlich wollen Sie lieber aus dem Auto geworfen werden. Aber das ist nicht das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Besonders, wenn er so ein vorbildlicher Familienvater ist . . .« Und sie befahl mit derselben gelassenen Stimme: »Max, halt mal den Herrn Fandorin fest, sonst greift er mir noch ins Steuer, da sei Gott vor . . .«
    Der hinten sitzende Mann (der, in dessen Blick Nicholas Mitleid entdeckt hatte) nahm den Magister leicht und sicher in den Schwitzkasten.
    »Ich werde Sie nicht töten«, fuhr Jeanne fort. »Leben Sie ruhig weiter. Aber Ihre Schulden müssen Sie so oder so begleichen. Ich bin bereit, einen von Ihren entzückenden Zwillingen in Zahlung zu nehmen. Wen mögen Sie mehr: den kleinen Erast oder die kleine Angelina? Ich bin kein Unmensch, mir reicht einer, Sie können selber auswählen . . .«
    Nicholas wollte sich verkriechen, keuchte und wollte nur noch eins: so schnell wie möglich aufwachen. Ihm wurde erst jetzt klar, dass die wahnwitzigen Ereignisse der letzten Tage einfach ein Albtraum waren. Und schuld daran war der verrückte Besucher, der sich als Richter bezeichnet hatte. Er hatte von Geiseln gesprochen und von der scheußlichen Wahl zwischen den eigenen Kindern. Na bitte, nun träumte er also davon.
    Doch das war natürlich eine Selbsttäuschung, eine Schutzreaktion der bedrängten Psyche. In der nächsten Sekunde dachte Nicki schon nicht mehr ans Aufwachen – es geschah etwas Merkwürdiges, ganz Unerklärliches mit ihm.
    Er sah das, was mit ihm passierte, auf einmal von außen, aus der Distanz. Die Landstraße; das dahinrasende Auto darauf; im Auto ein Mann, dem es an die Kehle geht. Es war eine Qual, diese Szene verfolgen zu müssen. Aber dann sah er dasselbe Auto von oben – erst im natürlichen Maßstab, dann verwandelte sich das Auto in dem Maße, wie sich der Beobachtungspunkt nach oben verschob, immer mehr in einen kleinen Käfer, einen Wurm, einen winzigen Punkt. Es gab nicht nur eine Welt – sondern zwei: eine große und eine kleine. In der kleinen ereignete sich eine Tragödie, während die große ihre Majestät und ihr Gleichgewicht behielt. Und es blitzte der unverständliche Gedanke auf: Ich kann alles umstoßen. Es steht in meinen Kräften, die Harmonie in der kleinen Welt wiederherzustellen, aber die große Welt wird es dann nicht mehr geben. Diese schlimme Alternative, dass es die große Welt dann nicht mehr gäbe, erschien ihm aus irgendeinem Grund unerträglich.
    »Nein«, sagte Nicholas keuchend.
    »Wie nein?«, fragte Jeanne, gab sich aber gleich selber die Antwort. »Sie haben Probleme, sich das vorzustellen? Da kann ich Ihnen helfen. Ich führe es Ihnen vor.«
    Nicholas wusste nicht, was sie meinte, und folgte ihrem Blick.
    Es war das erste Mal, dass das Auto auf dieser albtraumhaften Fahrt anhielt – sie waren an einen Bahnübergang gekommen. Polternd fuhr ein Zug vorbei. Es gab keine anderen Autos an der Schranke, nur ein blonder Dorfjunge stand da und hielt den Lenker eines für ihn zu großen Fahrrads. Er musterte neugierig das tolle Auto, starrte in die dunklen Scheiben, streckte vor Langeweile seinem eigenen Spiegelbild die Zunge heraus und lachte. Max, der Nicholas eisern festhielt, prustete ihm ins Ohr, der kleine Wildfang hatte ihn erheitert.
    Dann ertönte eine Glocke, die Schranke hob sich, der Junge wedelte mit seinem knochigen Hintern und radelte los. Der Schulranzen mit den bunten Aufklebern hüpfte fröhlich auf seinem Rücken.
    »Da gucken wir genau hin«, sagte Jeanne und fuhr an.
    Alles andere ereignete sich binnen einer einzigen unendlichen, in der Zeit stehen gebliebenen Sekunde.
    Als Nicholas sah, dass die Stoßstange des immer schneller fahrenden Jeeps sich dem Hinterrad des Fahrrads näherte, schrie er auf und riss sich los. Dieser Spielraum von zwei bis drei Zentimetern reichte Fandorin, um einen verzweifelten Vorstoß zu unternehmen und ins Steuer zu greifen.
    Das Vorderteil des Autos tat einen Ruck nach links und streifte den Fahrradreifen leicht. Trotzdem flog der kleine

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