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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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haben sie im Blut«, sagte er hitzig, als nähme er einen langen heftigen Streit auf. »Selbst die Besten! Und sie sind genauso wenig daran schuld, wie ein Kätzchen an der Brutalität schuld ist, wenn es mit einer Maus spielt, die es gefangen hat! Wie eine Rose nicht schuld daran ist, dass sie ein verlockendes Aroma verströmt! Auch sie folgen der Stimme ihres Instinktes und locken einen, bringen Schimären hervor und unerfüllbare Träume!«
    »Wer ist denn › sie ‹ ?«, erkundigte sich Mitja, als Daniel eine Pause machte.
    »Na, die Weiber, wer denn sonst! Ach, mein Freund, das liegt noch nicht einmal an ihnen, sondern an dir selbst. Da wartest du, dass diese Pest dich in Ruhe lässt, hoffst, dass mit den grauen Haaren eine selige Gelassenheit und Klarheit des Verstandes einkehren. Doch die Jahre vergehen, und es ändert sich nichts. › Ich werde warten ‹ , das hat sie in jenem besonderen Ton gesagt, den nur wunderschöne Weiber verwenden. Du brauchst es mir nicht zu versichern, ich weiß selber, sie meint nichts von dem, was ich gerne hätte. Eine Freundlichkeit, sonst nichts. Und es kann ja auch nichts zwischen uns sein! Wer ist sie, und wer bin ich? Ein Blick in den Spiegel zeigt es! Wie ich Herrn Sisow beneide, der jetzt im Bett liegt und sich über die ihm widerfahrene Metamorphose ärgert. Er müsste mir dankbar sein, dass ich ihn für immer von dieser verdammten Last der Sinnlichkeit befreit habe.«
    Mitja hörte aufmerksam den Klagen des älteren Freundes zu, aber der Sinn der Worte, die eigentlich verständlich waren, entging ihm. Nur die letzte Bemerkung war interessant.
    »Ihr habt ihn von der Sinnlichkeit befreit, indem Ihr ihm einen Schlag in die Lenden versetzt habt? Liegt denn da wirklich das für die Sinne verantwortliche Zentrum?«, fragte Mithridates lebhaft und berührte vorsichtig den Hodensack.
    Vondorin schielte zu ihm herüber und murmelte:
    »Wenn man mit dir spricht, vergisst man ganz, dass du noch ein Kind bist, auch wenn du sehr belesen bist.«
    Er wandte sich ab und hatte keine Lust mehr zu erzählen, an was er dachte.
    Na dann eben nicht. Mitja schlug den Kragen hoch, schmiegte sich an den Ofen und schlief bis Krestzy, wo sie die Pferde der Gräfin gegen Postpferde eintauschten. Sie waren zwar vielleicht schlechter, aber frisch.
    Sie aßen heiße Kartoffeln mit Öl und fuhren weiter.
    Jetzt schlief Daniel, während Mitja durch das Fenster auf die weiße Winterwelt schaute, die manchmal von abgelegenen schwarzen Dörfern unterbrochen wurde, und über Russland nachdachte.
    Was ist Russland eigentlich?
    Das heißt, man kann natürlich ohne weiteres eine einfache Antwort geben: fünfzehn Millionen Quadratwerst Niederungen und Berge, wo dreißig Millionen Einwohner leben und jetzt, seit der Annexion Polens, sogar fünfunddreißig. Das stimmt zwar, aber was vereint diese ungeheure Anzahl von Menschen? Warum heißen sie alle zusammen »Russland«?
    Sprechen sie alle dieselbe Sprache? Nein.
    Haben sie dieselbe Religion? Ebenfalls nein.
    Oder haben sie lange nachgedacht und sich geeinigt, dass sie Zusammenleben wollen? Wieder nein.
    Haben sie vielleicht eine gemeinsame Erinnerung an frühere Zeiten? Keineswegs. Gestern bekämpften sich die heutigen Mitbürger noch gegenseitig, und jeder hat eine andere Erinnerung an diese früheren Fehden. Die Russen können die Tataren und Polen nicht leiden, und umgekehrt wohl genauso.
    Und was haben wir dann eigentlich gemeinsam?
    Als Erstes kam ihm folgende Antwort in den Sinn: Russland, das ist der Wille, der Staatsmacht heißt; an ihr hängt letztlich alles.
    Da bekam er Angst, denn er hatte ja die Macht von nahem gesehen und wusste, wie sie aussah: eine dicke Alte, die in Platon Surow verliebt war, vor den Jakobinern Angst hatte und an die Zauberkräuter des Admirals Kosopoulos glaubte. Und diese Alte würde vermutlich bald vergiftet.
    Aber mit Katharinas Tod würde Russland nicht aufhören zu existieren.
    Also war Russland nicht die Macht, sondern etwas anderes.
    Er kniff die Augen zusammen, um sich die unvorstellbar weiten Räume mit dem winzigen Fleck der Hauptstadt am westlichsten Rand vorzustellen, und sah auf einmal, dass dieser Fleck ein grelles, pulsierendes Leuchten ausstrahlte.
    Dann war also das Russland!
    Diese konzentrierte Energie, die Stämme und Länder um sich schart, und zwar mit einer solchen Macht, dass diese Anziehungskraft über Tausende von Werst spürbar ist und mit jedem Jahr wächst. Solange dieses Feuer brennt, solange

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