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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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festhalten und einen Schritt tun; und am nächsten Tag watschelte er wacker durch das ganze Haus und machte eine neue Entdeckung nach der anderen.
    Dass er, bis er drei Jahre alt war, mit niemand sprach, lag daran, dass er keine Zeit hatte. Was hätte er denn auch Interessantes von seiner Umgebung hören können? Von der Amme Malascha »Baju-Baj, Baju-Baj, bald schon holt dich der Mamaj«. Von seiner Mutter, wenn sie ihn morgens zu ihr ins Schlafzimmer brachten und ihr vorzeigten: »Ach, mein Mitjaleinchen, du mein Zuckerschweinchen.« Von seinem Bruder Endimion, der ins Kinderzimmer gelaufen kam, um seine Schleuder oder einen Lappen mit von Vater geklautem Tabak an einem sicheren Ort unter der Wiege zu verstecken: »Na, du Scheißer, machst du immer noch in die Hose?« (Dabei stimmte das gar nicht! Mitja hatte seiner Amme schon mit sechs Monaten beigebracht: Wenn er mit der Zunge schnalzt, ist das der Ruf der Natur. Dass sie nicht früher kapiert hatte, was das Schnalzen bedeutete, lag nicht an ihm; sie war eben etwas schwer von Kapee.)
    Mitjas Hauptabenteuer jener stummen Zeit bestand darin, sich still und heimlich in Vaters Arbeitszimmer zu den Büchern zu schleichen oder, noch besser, zu den Gästen unter den Tisch. Da hörst oder erfährst du immer etwas Neues: vom Krieg mit den Schweden und Türken, von den Jakobinern und von den Ereignissen in Moskau. Aber in den Zimmern der Erwachsenen darf man nicht reden, sonst nehmen sie dich gleich auf den Arm und bringen dich weg, zu Malascha, wo du zum tausendsten Mal den Unsinn von Kater Katersohn und der Hexe über dich ergehen lassen musst.
    Als Mitja sich das Recht erkämpft hatte, bei seinem Bruder im Klassenzimmer zu sitzen, da fing für ihn endlich das richtige Leben an. Jeden Tag neue Entdeckungen, ein wahres Fest für den Verstand! Monsieur de Chaumont unterrichtete Französisch und Deutsch sowie Geographie, Geschichte und Astronomie. Der Seminarist Vikenti Arithmetik, russische Grammatik und Theologie. Schade, der Unterricht dauerte nur zwei Stunden pro Tag, und Endimion mit seiner Begriffsstutzigkeit ging einem auf die Nerven, wie viel Zeit seinetwegen verloren ging! Mitja nannte den älteren Bruder heimlich Embryo, denn von der Denkfähigkeit her hatte sich dieser Schwachkopf nicht weit vom menschlichen Fötus weiterentwickelt.
    Abends wenn das Haus einschlief (und in Trost ging man früh ins Bett: im Sommer kurz nach neun, im Winter kurz nach acht), begann die wichtigste Zeit.
    Leise, auf Zehenspitzen, an der Truhe vorbei, auf der die Amme schnarcht, in den Flur; von dort mucksmäuschenstill zur Treppe – und in den oberen Wohnraum –, auf Französisch heißt das bel-étage; dort ist das Arbeitszimmer. Unter dem Tisch hatte er zuvor schon eine Kerze versteckt und einen Band der großen Enzyklopädie – einen, der zu schwer ist, als dass man ihn aufheben könnte. Bis fünf Uhr hast du ein königliches Leben, unterhältst dich mit Menschen, die dir intellektuell ebenbürtig sind – vor dem einen verneigst du dich ehrfürchtig, mit dem anderen streitest du vielleicht. Um sechs geht es zurück ins Bett. Das ist doch unbegreiflich, dass die Menschen ein Drittel ihres ohnehin nicht langen Lebens im Bett verbringen! Warum so viel? Drei Stunden sind doch für die physische Erholung und Erfrischung des Geistes mehr als genug.
    Bis jetzt kamen Mitja manchmal Zweifel, ob es nicht verkehrt war, dass er an jenem Herbsttag den Mund aufgemacht hatte. Ein spontaner Drang, ein Impuls seines gefühlvollen Herzens, setzte seinen stillen Freuden schweigender Absonderung ein für alle Mal ein Ende. Es tat ihm einfach Leid, sehen zu müssen, wie sein Vater nach seiner Rückkehr aus Petersburg, wohin er gefahren war, weil er durch den Tod des Zyklopen Hoffnung geschöpft hatte, versauerte und der Hypochondrie verfiel. Tag für Tag von morgens bis abends weinte Alexej Woinowitsch bitterlich, hob die Hände gen Himmel und verfluchte das grausame Schicksal, das ihn dazu verdammte, in Moskauer Armut bei zweitausendachthundert Rubeln jährlich zu verkümmern, als untröstlicher Erzeuger zweier Missgeburten – eines unvorstellbaren Dummkopfes und eines stummen Idioten.
    Im Haus war es still. Die Mutter wurde von Kopfschmerzen gepeinigt, der Bruder hatte sich auf dem Speicher versteckt, damit sie ihn nicht versohlten, das Gesinde hatte sich ebenfalls zurückgezogen. Und da fällte Mitja eine großherzige Entscheidung: Vater sollte wenigstens in einem Punkt Erleichterung bekommen.

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