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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Er sollte sich wenigstens nicht um seinen Jüngsten sorgen, der nichts weniger als ein Dummkopf war und, wenn er wollte, sehr wohl sprechen konnte.
    Anfangs versuchte er zur Übung, laut mit sich selbst zu reden. Früher hatte er natürlich manchmal ebenfalls in Monologen gesprochen, aber lautlos, indem er nur die Lippen bewegte; und da hatte sich heraus gestellt, dass seine Stimme den Gedanken hinterherhinkte. (Diese überstürzte Redeweise hielt sich auch später, und nicht jeder konnte sie verstehen, besonders, wenn sich Mitja für irgendeinen Gedanken begeisterte.) Man musste hier außerdem auch noch Vaters Hitzigkeit berücksichtigen. Die Sätze mussten kurz sein und enden, bevor Alexej Woinowitsch stürmisch protestieren konnte und den ganzen Effekt verdarb. Das Einfachste war, hineinzugehen und guten Tag zu sagen, aber nicht auf Russisch, sondern in einer Fremdsprache. Kurz und bündig.
    Er ging ins Esszimmer, in dem Vater am Fenster saß, seine aufgelösten und ungekämmten Locken aufs Fensterbrett fallen ließ und schluchzte. Und er gab sich äußerste Mühe, die französischen Laute genauso wie Monsieur de Chaumont auszusprechen, als er sagte: »Bon matin, papa.«
    Vater drehte sich um. Er hatte es nicht gehört oder dachte, er habe sich verhört. Leidend runzelte er die Stirn und seufzte: »Geh, geh nur, du unverständiges Kind!« Und wies mit der Hand auf die Tür und heulte noch mehr, so sehr brachte ihn Mitjas Anblick aus dem Gleichgewicht.
    Da führte Mitja ihm ein Zitat zu Verstand und Unverstand aus Pascals »Pensées« an (er hatte gerade gestern Nacht das Buch gelesen und viele Maximen wörtlich behalten, weil sie so treffend waren): »Deux excès: exclure la raison, n admettre que la raison.« »Die Vernunft ausschließen, nur die Vernunft anerkennen«, Blaise Pascal, Gedanken, Nr. 183
    Das klang noch effektvoller, als er gedacht hatte. Mitja hatte Vaters Stabilität falsch eingeschätzt; kaum hatte er die Maxime gehört, verdrehte Alexej Woinowitsch die Augen und fiel in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, sah er das verwirrte Gesicht seines Jüngsten über sich, der ihn auf Russisch, Französisch und Deutsch tröstete, und da hob er die Hände zum Himmel und dankte der Vorsehung für das erwiesene Wunder.
    Dann seufzte und staunte Vater lange, als er erfuhr, dass der Junge auch Latein verstand und sich in verschiedenen Wissenschaften gut auskannte. Aber am meisten verblüfften den Vater Mitjas Gedächtnis und seine Schnelligkeit bei der Lösung arithmetischer Aufgaben. Etwas Interessantes zu behalten, ist keine außerordentliche Leistung, auch wenn es sich gleich um ganze Seiten handelt, das konnte er Vater leicht erklären; dagegen fiel es ihm schwer, von den bunten Zahlen zu berichten, denn auch er selbst verstand nicht ganz, wie diese arithmetische Mechanik eigentlich im Hirn funktionierte.
    Es verhält sich damit folgendermaßen: die Eins ist weiß, die Zwei rosa, die Drei blau, die Vier gelb, die Fünf braun, die Sechs grau, die Sieben rot, die Acht grün, die Neun lila, die Null schwarz. Wer das nicht sieht, dem hat es keinen Sinn zu erklären, dass wenn du zum Beispiel die Zahl 387 nimmst, sie wie ein dreifarbiges Bonbon aussieht: blau-grün-rot. Wenn du sie mit der Zahl 129 multiplizierst, einer weiß-rosa-lila Zahl, verflechten sich alle Zahlen im Nu in einen dicken bunten Zopf, die Farben gehen von einer in die andere über, und das Weitere ist einfach: Nenne die entstehenden Parzellen des Spektrums hintereinander, dann erhältst du die gesuchte Zahl 49923. Und genauso funktioniert das Dividieren.
    Vater hörte sich die unverständlichen Erklärungen lange an und schrie plötzlich wie Archimedes von Syrakus »Heureka!«. Er packte Mitja an den Händen und lief mit ihm zu Mutter. Dort fiel er auf die Knie und küsste Mamas Bauch, direkt durch das Kleid. »Was macht Ihr da, Alexis?«, schrie sie ängstlich.
    »Ich küsse Euren gesegneten Leib, der einen Herakles der Gelehrtheit auf die Welt gebracht und uns damit den Weg ins Paradies geebnet hat! Aglaja Dmitrijewna, schaut auf diese Frucht Eurer Lenden!«
    Das war der Augenblick, in dem das Projekt entstand.
    In der Zeit von Vaters Kindheit hatte man viel von dem kleinen Mozart gesprochen, den sein Vater durch Europa begleitete und den Monarchen vorführte, wofür man ihm nicht wenig Ehre und Anerkennung zukommen ließ. Wieso war Dmitri Karpow schlechter als das deutsche Naturwunder? Weil er nichts von Musik verstand? Wer braucht denn

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