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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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man nicht von ihm zu hören. Sie ermahnten ihn und versuchten es mit Schreien – doch er sagte kein Sterbenswort; dabei war er doch gar nicht taub, sondern hörte alles. Schließlich gaben sie es auf, dachten, er werde wohl nicht lange leben, der Herrgott werde ihn wohl früh zu sich nehmen, und bis dahin solle er doch aufwachsen, wie er wollte.
    Wenn sie Mitja in Ruhe ließen, dann hatte er ein höchst interessantes Leben. Am liebsten saß er im Klassenzimmer, wo Monsieur de Chaumont und der Seminarist Vikenti abwechselnd seinen Bruder unterrichteten. Wenn man den Kleinen verjagte, stimmte er ein Geheul an und litt danach lange unter einem Schluckauf, deshalb jagten sie ihn nicht mehr fort – sollte er doch dableiben. Es stellte sich heraus, dass der Kleine lange still hielt, wenn man ihm einen Band aus der französischen »Grande Encyclopédie« in die Hand drückte (Alexej Woinowitsch hatte sie einst aus der Hauptstadt mitgebracht, man hatte sie ihm zur Begleichung einer Kartenschuld gegeben). Die Erwachsenen belächelten den kleinen Idioten: Sie waren gerührt; er starrte auf die großen Seiten, als könne er lesen. Wenn man ihnen gesagt hätte, dass Mitja schon mit drei Jahren in der französischen Enzyklopädie wirklich einen Artikel nach dem anderen verschlang, hätten sie das nie im Leben geglaubt.
    Aber hier muss man schön der Reihe nach erzählen – angefangen bei dem Punkt, da der Adelige Dmitri Alexejewitsch Karpow im Kreis Swenigorod das Licht der Welt erblickte. Dieser Spross einer alten Adelsfamilie (mit einem Pferdehuf und einem Hundekopf auf einem Stock im Wappen) kam nicht wie die üblichen Schreihälse auf die Welt, sondern erblickte unter völligem Schweigen und mit weit geöffneten Augen, die er zur Verwunderung des Arztes und der Hebamme sofort drehte und wand, das Licht der Welt. Dass das Neugeborene schwieg, war gar nicht so erstaunlich, denn das Stöhnen der Wöchnerin, die, von der stundenlangen erfolglosen Anstrengung erschöpft, gezwungen gewesen war, sich der grausamen Operation eines Kaiserschnitts zu unterziehen, war recht durchdringend. Angesichts des schrecklichen Lärms, den die Unglückliche machte, hatte der neue Erdenbürger kaum hoffen können, gehört zu werden. Die offenen, klaren Äugelchen, die vom ersten Augenblick an vor unersättlicher Neugier brannten, waren dagegen wirklich ein außergewöhnliches Phänomen.
    Eine andere auffällige Besonderheit zeigte sich etwas später, als der Säugling Haare auf dem Kopf bekam: Sie waren überall kastanienbraun, nur auf dem Scheitel war ein grauer Fleck, aus dem mit der Zeit eine silberne Locke wuchs. Die Bedeutung dieser symbolischen Auszeichnung offenbarte sich erst viel später; anfangs dachte sich keiner etwas dabei. Was es nicht alles so gibt: der eine hat ein Muttermal, der andere Sommersprossen und der Dritte einen weißen Fleck am Kopf.
    Der Vater hatte sich für das zweite Kind, wenn es ein Junge werden würde, den schönen Namen Apollon ausgesucht, sah sich aber gezwungen, auf den edlen Klang zugunsten des gewöhnlichen Dmitri zu verzichten. Das war der Name des Schwiegervaters, dessen finanzielle Hilfe der Kavallerie-Garderittmeister a. D. damals dringendst benötigte, um eine Kartenschuld zu begleichen.
    Der winzige Dmitri Alexejewitsch wurde in eine kleine Wiege gelegt, der ein Meister am Stammsitz in Trost, dem früheren Sopatowka, die Form eines Schiffes gegeben hatte, und in diesem Kahn machte er sich auf die Fahrt durch das anfänglich stille und seichte Meer des Lebens.
    Im Schlafzimmer war an der Decke dargestellt, wie die Planeten sich um die Sonne drehen. Dieses Bild hatte Mitja sage und schreibe das ganze erste Jahr seines Erdendaseins vor Augen. Gegenüber von jedem Himmelskörper war mit kyrillischen und lateinischen Buchstaben sein Name angegeben, so dass der Gegenstand und seine Schreibweise für Mitja sehr viel früher zusammenfielen als die mündliche Bezeichnung und der Gegenstand. Zuerst war СОЛНЦЕ O Sol; dann, als sie Mitja zum ersten Mal in den Garten trugen und auf den heißen gelben Kreis zeigten, tauchte »Sonne« auf, und er verband Ersteres und Zweiteres schon aus eigener Kraft, was der erregendste und geheimnisvollste Augenblick seines Lebens war.
    Er wollte schrecklich gern möglichst schnell gehen lernen, aber diese Unmenschen hielten ihn fast ein ganzes Jahr in Windeln gebunden. Als sie ihn dann endlich herumkriechen ließen, konnte Mitja sich bereits am ersten Abend an der Wand

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