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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Autos, die sich, von den Scheinwerfern des Kremlturms illuminiert, über die Uliza Soljanka wand, und in der Ferne die Zinnen der Möchtegernwolkenkratzer vom Neuen Arbat. Aber wenn man genauer hinsah, hatten all diese Gegenstände eine unterschiedliche Konsistenz und verhielten sich auch unterschiedlich. Der Kreml, die Kirchen und der Koloss des Erziehungsheims standen da wie kompakte, undurchsichtige Felsen; die anderen Häuser aber zitterten kaum merklich, und man konnte in sie hineinsehen. Hinter ihren verschwommenen, gleichsam trügerischen Wänden traten die Konturen anderer Gebäude hervor, die niedrig und größtenteils aus Holz waren und aus deren Schornsteinen Rauch aufstieg. Vom intensiven Hinschauen lösten sich die Autos fast ganz in Nichts auf, zurück blieb nur das schillernde Spiel der Lichtreflexe auf dem Fahrdamm.
    Nicholas blickte unter sich und sah dort unten, unter einem gläsernen Fußboden, ein mit Schindeln gedecktes Dach und in dessen Nachbarschaft auf derselben Höhe ebensolche Dächer sowie das spitze obere Ende eines Lattenzauns. Das waren die Vorratskammern für Salz, erriet der Magister der Geschichte. Etliche Zeit bevor die Korporation der Hausbesitzer am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts diesen grauen Koloss mit unzähligen Wohnungen hatte bauen lassen, befand sich hier der kaiserliche Salzhof. Es wundert keinen, dass in diesen engen Steinschluchten nichts wächst – die Erde ist durch und durch versalzen. Fandorin erblickte am Tor des Salzhofes einen Wachmann in Pelzmantel und Dreispitz, sein Bajonett funkelte im Mondschein. Das war zu viel des Guten; Nicholas schüttelte den Kopf, um sich von dem zu sehr ins Detail gehenden Bild zu befreien.
    Kann man denn in einem solchen Maß in das achtzehnte Jahrhundert eintauchen? Die Zeit ist eine knifflige und nicht vorhersagbare Angelegenheit. Womöglich tauchst du eines Tages in ihre Tiefen ein und kannst dann nicht mehr zurück.
    Er schüttelte sich noch einmal energisch, und der Spuk verschwand. Der Fußboden wurde wieder undurchsichtig, auf der Straße summten die Autos, und vom oberen Stock kam eine hysterische karibische Musik – da wohnte der Rastaman Filja.
    Fandorins Beziehungen zu seinem Wohnort waren merkwürdig. Das lag an Moskau. Im Gegensatz zu Venedig oder Paris nimmt Moskau dich nicht sofort, bei der ersten Bekanntschaft, gefangen, sondern dringt erst mit der Zeit in die Seele ein. Du musst es wie eine riesige Zwiebel schälen: hundert Kleider, die alle keinen Reißverschluss haben, musst du eins nach dem anderen ausziehen, so dass dir die Tränen kommen. Du weinst, weil du verstehst: Du wirst es nie ganz schaffen.
    Die tausendjährige Stadt hat eine Stimme und zwar nicht die trügerische für die Besucher der Hauptstadt, sondern eine authentische; sie macht keinen Krach und Lärm, sondern ist ein ganz leises Flüstern. Wem es bestimmt ist, der hört sie; Fremde dagegen brauchen sie nicht zu hören. Vor einiger Zeit hatte Nicholas es gelernt, diese gedämpften Reden zu verstehen. Und dann war es ihm gelungen zu sehen, was nur wenige können: zum Beispiel die Konturen früherer Häuser, die sich durch die Mauern von Neubauten hindurch abzeichnen. Zerstörte Kirchen, die über der Erde schweben. Särge, die von vergessenen Friedhöfen unter belebten Plätzen stammten. Sogar Menschen, die hier früher gelebt haben. Menschenmengen verschiedener Moskauer Zeiten glitten über die Straßen, ohne sich in die Quere zu kommen und ohne einander wahrzunehmen. Manchmal blieb Fandorin wie angewurzelt mitten auf dem Bürgersteig stehen und weidete sich am Anblick einer unbekannten Dame in einem prachtvollen Hut, der ihr Gesicht mit einem Schleier verdeckte. Die Leute rempelten den baumlangen Lulatsch von hinten an und beschimpften ihn wütend (zu Recht). Nicholas fasste sich, lächelte schuldbewusst und ging weiter, aber er drehte sich ständig um und suchte, ob nicht bei dem Schaufenster des Supermarkts »Der Siebte Kontinent« wieder eine Silhouette aus der fernen Vergangenheit auftauchen wollte.
    Dumm, wie er war, erzählte er einmal seiner Frau von dem anderen Moskau. Die kriegte einen Schreck, wollte ihn zum Psychiater schleppen, er musste sich mit Händen und Füßen wehren. Wenn das auch Wahnsinn war, so gefiel es Nicki doch, und er wollte nichts weniger, als davon geheilt zu werden. Er war ja nur ein leiser Spinner, der niemand belästigte, im Unterschied zu dem heutigen Herrn Kusnezow. »Das Gericht zieht sich zur Beratung

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