Der Favorit der Zarin
dachte Fandorin angestrengt darüber nach, ob er Hauptmann Wolf von seiner Entdeckung erzählen sollte oder nicht.
Zu früh, beschloss er. Es wäre besser, er würde sich erst einmal unter dieser Adresse erkundigen und zu klären versuchen, um was für eine Wohnung es sich handelte und wer dieser Schibjakin war. Wie er aussah. Womöglich wohnte da ein schmächtiger Mann mittleren Alters mit Geheimratsecken und blauen Glupschaugen, der einen sackförmig herunterhängenden Anzug trug. Oder man hatte obiges Subjekt dort gesehen, kannte es und würde es identifizieren können. Natürlich könnte auch die Miliz diese leichte Aufgabe übernehmen, aber sie würde kaum so viel Ehrgeiz und Schwung an den Tag legen wie ein zum Tode Verurteilter.
Auch wenn die Adresse eine totale Fehlanzeige war, ein negatives Ergebnis war schließlich auch ein Ergebnis. Angenommen, die Anrufer-Identifikation hatte eine Ziffer verwechselt. Dann sollten die Kollegen von Hauptmann Wolf nicht nur die Verbindungen von Iwan Iljitsch Schibjakin unter die Lupe nehmen, sondern auch Informationen zu allen Teilnehmern einholen, deren Nummer der angegebenen ähnelte. Das war natürlich eine mühselige Arbeit, aber so kompliziert nun auch wieder nicht. Wenn sie wirklich diese »Unfassbaren« fangen wollten – natürlich nicht Nicholas Fandorins wegen, sondern wegen ihrer »Resonanz« – bei Generaldirektoren und Vorstandsvorsitzenden –, dann sollten sie sich ruhig anstrengen. Und wenn sich nun doch herausstellen sollte, dass der verstorbene Besucher in der Wohnung 36 wohnte . . .
Nicholas spürte, wie ihn ein Gefühl überkam, das jeder Geschichtsforscher und Erfinder von Computerspielen kennt: der Jagdinstinkt, einer der stärksten Anreize, die der aufgeklärten Menschheit bekannt sind. Und er riss sich am Riemen und sagte sich: immer mit der Ruhe, eins nach dem anderen.
***
Die Uliza Lyssenko befand sich an der Stelle, wo vor der Revolution die Vorstadt der Abdecker war, und hatte sich in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in einen schicken sowjetischen Neubau-Bezirk verwandelt.
Fandorin stieg vor dem Haus Nr. 5 aus und sah sich um; er fröstelte in dem kalten Wind, der die letzten Reste des Anstands von den Bäumen geblasen hatte, so dass sie nun ganz nackt waren und Gestorbenen auf dem Seziertisch glichen. Diese Metapher dämpfte im unpassendsten Moment (oder vielleicht auch gerade im passendsten) Nicholas’ Aufregung. Das ist kein Quest, sagte er sich. Wenn du verlierst, kannst du nicht zurück an den Start gehen.
Das Haus gehörte zu denen, um die man sich in der Sowjetzeit riss: vierzehn Stockwerke, heller Backstein, ein großes Vordach über dem Haupteingang. Aber nun war daneben ein schnuckeliger neureicher Prunkbau aus dem Boden gesprossen, mit Türmchen und bauchigen Säulchen, eine richtig fette Buttercremetorte, und dadurch hatten die früheren Luxuswohnungen an Attraktivität eingebüßt und wirkten wie arme Verwandte – oder sogar noch nicht einmal wie Verwandte, sondern wie ein hungriger Straßenjunge, der in das Schaufenster einer Bäckerei guckt.
Na, bild dir mal bloß nicht zu viel ein, sagte Nicki zu dem neureichen Pseudo-Biedermeierstil. Warte nur ein Weilchen, dann wird auch bei dir die Farbe abblättern und verblassen, weil die neue Elite aufs Land zieht, wo die Luft gut ist und wo man sich von den Mitbürgern, die es nicht geschafft haben, durch einen Zaun abgrenzen kann.
Der Eingang zum Haus Nr. 5 war geschlossen. In der Hoffnung, dass irgendeine alzheimerkranke Alte in der Ecke den Code zum Offnen der Tür notiert hätte, hockte sich Fandorin hin und untersuchte die verkratzte Tür. Bei dieser Beschäftigung traf ihn ein Muttchen an, das sich mit ihren zwei Taschen dem Eingang näherte.
»Zu wem möchten Sie?«, fragte sie, aber nicht aggressiv, sondern eher neugierig – immerhin sah Nicholas anständig und nicht wie ein Einbrecher aus.
»Wohnung sechsunddreißig«, sagte er. »Ich komme nur nicht rein.«
Das Muttchen beeilte sich nicht, ihm die Tür aufzumachen.
»Zu Schibjakin?«
»Ja, zu Iwan Iljitsch«, antwortete er scheinbar naiv und nickte zustimmend.
Die Antwort war richtig. Es gab zwar keinen triumphalen Heulton, wie es bei den Quests der Fall ist, wenn du die nächste Stufe erreicht hast, aber der Sesam öffnete sich.
»Warum hat er Ihnen denn den Code nicht gesagt?«, fragte die Einheimische kopfschüttelnd, hängte eine ihrer Taschen an einen Haken und drückte die Tasten für den
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