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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Code. »Seit seine Frau gestorben ist, geht es immer mehr mit ihm bergab, er ist kaum wiederzuerkennen. Hat furchtbar abgenommen, sieht aus wie ein Penner, und seine Augen flackern wie die eines Irren. Danke, ich schaff das schon alleine.« (Das sagte sie als Antwort auf seinen Vorschlag, ihr die Taschen abzunehmen.) »Ich wohne unter ihm. Er hat bei mir einen Wasserschaden angerichtet, ich bin zu ihm gegangen, Sie glauben nicht, wie es bei ihm aussieht. Staub, Müll, überall Kakerlaken. Die arme Ljuba, wenn die das sehen würde. Solange sie da war, war immer alles tipptopp, sie war superordentlich. Sind Sie ein Bekannter von ihm?«
    Nicholas schluckte, als er von der gestorbenen Frau hörte. Also doch ein Volltreffer? Nein, das wäre zu einfach!
    »Iwan Iwanowitsch ist ein früherer Kollege von mir«, murmelte er.
    »Von der › Prawda ‹ ? Sind Sie auch Journalist?«
    »Ja, so etwas Ähnliches.«
    Schibjakin war also bei der kommunistischen »Prawda« gewesen? Alles passte zusammen!
    Während sie im Aufzug hochfuhren, hielt die Nachbarin keine Sekunde den Mund, teilte aber nichts Wertvolles mehr mit – sie schimpfte über die heutige Zeit. Sie beklagte sich, dass früher in der Eingangshalle Gummibäume gestanden, eine Wandzeitung gehangen und Portiers die Leute empfangen hätten; das sei nun alles vorbei. Ehrliche Menschen müssten mit Einkaufsnetzen nach etwas Essbarem suchen, schleppten ihre zehn Jahre alten Bisammützen, bis diese auseinander fielen, und die Hälfte der Wohnungen kauften alle möglichen Tschetschenen auf, die den Hof mit Westautos voll stellten.
    »Ja, wenn es nur der Hof wäre«, sagte das sozialistische Klageweib zum Abschluss ihres Lamentos, während sie im achten Stock ausstieg. »Was haben sie nur mit unserem Land angestellt! Man braucht sich nur Ihre Zeitung anzugucken. Die war doch früher nicht so!«
    »Das kann man wohl sagen!«, sagte Fandorin seufzend. Sein Herz klopfte immer schneller.
    Im neunten Stock stand er lange vor der braunen Tür, an der das Kupferschildchen mit den Ziffern 3 und 6 befestigt war. Das hatte wohl früher einmal imposant ausgesehen, aber inzwischen hatte das Metall seinen Glanz verloren und war fleckig geworden.
    »Das war Nayk Borzov, der unseren Radiohörern auf ewig verbunden ist«, drang eine forsche Mädchenstimme durch die Tür »Und nun die Werbung . . .«
    Unter den Klängen eines ergreifenden Duetts, das eine Hymne auf das »Stomatologische Zentrum Master Dent« sang, drückte Nicholas mehrmals auf die Klingel.
    Wie zu erwarten, rührte sich nichts; nur brachte das Radio jetzt den Wetterbericht: Regen, Nordwind, Nachtfrost.
    Er hatte eigentlich alles getan. Er hatte die Hälfte der Arbeit der sechzehnten Abteilung erledigt. Er brauchte nur Wolf anzurufen, damit der käme, in Begleitung von Untersuchungsführer und Zeugen, oder wie das eben so bei ihnen gehandhabt wurde.
    Nicholas zog am Türgriff, ohne Absicht, in Nachdenken versunken.
    In der Tür schnappte etwas ein, und der Türflügel öffnete sich nach innen, wie es bei Häusern sowjetischer Bauweise Vorschrift war. Nicki hatte irgendwo gelesen, es habe irgendwann eine spezielle Instruktion des Geheimdienstes gegeben, nach der sich die Eingangstüren nur nach innen öffnen durften, damit man sie bei der Verhaftung leichter einschlagen konnte.
    Fandorin kam es vor wie ein Déjà-vu; ihm schien, er habe früher schon einmal gesehen, wie sich die Tür mit einem leisen Knarren öffnete und jemand in die leere Wohnung lockte. Es war ein echtes Déjà-vu, denn er hatte diese Szene schon unendlich oft im Kino gesehen: wie jemand an einer vermeintlich verschlossenen Tür zieht und diese auf einmal unheilverkündend in den Angeln quietscht und nachgibt. Und er hatte das unerklärliche Gefühl, als sei an diesem Faktum überhaupt nichts Verwunderliches, die Tür habe sich öffnen lassen müssen. Verwunderlich war etwas anderes: Durch den Spalt fiel elektrisches Licht auf den halbdunklen Treppenaufgang. Und das bei Tage?
    Nicholas erstarrte, nachdem er die kalte Klinke heruntergedrückt hatte. Er traute sich nicht einzutreten, sondern spähte nur durch den Türspalt. Nach den Gesetzen Hollywoods müsste jetzt im Inneren die Leiche des Wohnungsinhabers gefunden werden, aber dass die nicht da war, wusste er sicher. Das heißt, es gab sie zwar, aber nicht in Wohnung 36, sondern im Leichenschauhaus der Miliz.
    Spannung hin, Spannung her, aber gegen Gesetze darf man nicht verstoßen. Fandorin stieß die Tür

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