Der Favorit der Zarin
verschlossen nicht die Tür. Zwar hatte es auch kaum Sinn, die Spuren verwischen zu wollen; der Wohnungsinhaber war tot, früher oder später würde man die Leiche identifizieren; und doch war die Dreistigkeit bemerkenswert. Diese Leute hatten aber auch vor nichts Angst! Was hatten sie hier gesucht? Hatten sie es gefunden oder nicht?
Er ging durch die verwüsteten Zimmer. Hob ein Foto mit gesprungenem Glasrahmen vom Boden auf. Auf dem Foto war der gestrige Besucher zu sehen, aber unbekümmert und wohlgenährt, mit einem zufriedenen Lächeln im runden Gesicht. Neben ihm stand eine Frau: kleine Dauerwellen, Doppelkinn, Ohrringe aus massivem Gold. Mit einem Wort: ein typisches Paar der Spezies Homo sovieticus. Früher hatte man solche Leute in einer europäischen Menschenansammlung auf Anhieb erkannt: an der Kleidung, am ängstlich gierigen Gesichtsausdruck. Sie waren jetzt ausgestorben wie die Dinosaurier und total in Vergessenheit geraten. Einerseits kann man da nur sagen: Hol sie doch der Teufel, da gehören sie auch hin, andererseits war das ja schließlich auch ein Stück der eigenen Geschichte, und es handelte sich um lebendige Menschen.
Auf dem eingeschlagenen Fernseher stand ein Teller mit einem Rest Buchweizengrütze. Nicki stellte sich in der verwahrlosten Wohnung, die bessere Zeiten gekannt hatte, einen einsamen Mann vor: wie er am Herd steht, um sich sein spartanisches Frühstück zu machen, und nicht weiß, dass es seine Henkersmahlzeit ist.
Die ausgeräumten Schreibtischschubladen standen offen, der Fußboden war über und über mit alten Quittungen, Wohnungsunterlagen und anderem Papierkram übersät. Ein Stapel alter Ausschnitte aus der »Prawda« lag neben einem Hefter, den man zubinden konnte. Offensichtlich waren sie darin aufbewahrt gewesen. Nicholas hockte sich hin und raschelte mit dem Zeitungspapier. Nichts Besonderes: Artikel und Artikelchen mit für die sowjetische Presse gewöhnlichem Inhalt. Aus Havanna, Hanoi, Damaskus und anderen exotischen Orten. Und überall die Unterschrift: »I. Schibjakin, Sonderkorrespondent« oder »I. Schibjakin, eigener Korrespondent«. Und ebenda lag auch die Kopie eines vor zehn Jahren im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen verfassten Kündigungsschreibens.
So, so war das also.
Ein Paket mit der Aufschrift »Ljuba«. Darin Fotos ebendieser Frau, in verschiedenen Altersstufen: mit Zöpfchen, mit Zopf, mit langen offenen Haaren, mit Hochfrisur, mit Kurzhaarfrisur, mit Dauerwelle. Die Heiratsurkunde. Der Totenschein – hm, es stellte sich heraus, dass Schibjakin schon seit anderthalb Jahren verwitwet war. Ein Auszug aus der Krankengeschichte und die Kopie eines mehrseitigen medizinischen Berichts. Weitere Analysen, Urkunden, Rezepte.
Fandorin seufzte und legte ehrfürchtig das Paket auf den Tisch. Wie traurig es doch ist, die Fragmente eines fremden Lebens in der Hand zu halten, das abgerissen, nicht an ein Ende gekommen ist.
Er richtete sich auf. In der Ecke über dem Fernseher sah er ein kleines Brett. Das konnte doch wohl nicht eine Ikone sein?!
Er schaute genauer hin: doch, tatsächlich. Eine neue Lithographie mit dem strengen Gesicht des Herrgotts und der Unterschrift in kyrillischer Schrift mit Ligaturen: »Sehet / ewr Gott der kompt zur Rache. Jesaja 35, 4.«
Er wunderte sich nur im ersten Moment über die Frömmigkeit des ehemaligen Korrespondenten der »Prawda«. Dann fiel ihm ein, dass die heutigen russischen Kommunisten in nichts den früheren Bolschewiki gleichen und sich weder an den Atheismus noch an den Internationalismus gebunden fühlen. Prominente nationalistische Denker und Politiker des neunzehnten Jahrhunderts wie Graf Uwarow und Obergeneralstaatsanwalt Pobedonoszew hätten ihre Freude an ihnen gehabt und sich blendend mit ihnen verstanden.
Es hatte auch etwas Rührendes, dass die Kerle, die die Wohnung verwüstet hatten, die Ikone nicht auf den Boden geworfen hatten. Natürlich hatten sie das Brett abgetastet (Fandorin sah aus der Höhe seiner zwei Meter Länge die Spuren des aufgewirbelten Staubes), aber sie hatten die Ikone verschont. Das wundert nicht, in Russland sind heute auch die Banditen alle fromm, sie hängen sich ein Kreuz um den Hals und stiften den Kirchen Glocken. Richtig wie in Sizilien.
Aber es wurde Zeit, auf den Boden des Gesetzes zurückzukehren.
Nicholas wählte die Nummer, die auf der Visitenkarte des Fahnders stand, und schon nach dem ersten Klingelton antwortete die Stimme des
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