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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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noch ein kleines Stückchen weiter auf. Eine Diele wie jede andere, nur dass auf dem Boden Schuhe herumflogen. Okay, er musste Wolf anrufen.
    Da klapperte die Tür des Nachbarn, und Nicholas huschte in Panik in die verwaiste Wohnung und schlug die Tür hinter sich zu. Wie hätte er erklären sollen, wer er war und warum er vor der geöffneten Tür einer fremden Wohnung stand!
    Als Erstes, noch bevor er sich umgeschaut hatte, bemerkte er den Schalter und löschte das Licht. Er presste sein Ohr gegen das Türleder.
    Auf der Treppe hörte man langsam schlurfende Schritte. Ganz in der Nähe kamen sie zum Stehen, in einer Entfernung von einem Meter. Die Türklingel schrillte durchdringend, und Fandorin verstand erst jetzt, was für eine wahnsinnige, womöglich nie wieder gutzumachende Dummheit er begangen hatte.
    »Iwan Iljitsch!«, hörte man die gereizte Stimme eines alten Mannes. »Machen Sie doch auf! Ich habe doch gehört, wie Sie die Tür zugeschlagen haben. Iwan Iljitsch!«
    Und wieder klingelte es, einmal lang, dann mehrere Male kurz.
    »Verflixt, was soll denn das! Bei Ihnen war die ganze Nacht das Radio an! Irgendwelche wüsten Neandertalergesänge! Ich habe ja Verständnis, Sie tun mir wirklich Leid und so weiter, aber so geht es ja nun auch nicht! Iwan Iljitsch!«
    Und leiser, wütend:
    »Der ist völlig durchgeknallt! Da kannst du gleich die Klapsmühle anrufen . . .«
    Und wieder hörte man Schritte, aber diesmal entfernten sie sich. Der Aufzug kam.
    Gott sei Dank, der war weg. Uff!
    Er musste möglichst schnell abhauen. Einfach Weggehen, die Tür zuziehen und Wolf anrufen. Zu sagen, dass er die Dummheit besessen hatte, die Wohnung zu betreten, war nicht nötig. Damit würde er nur Verdacht erregen.
    Stopp! Und die Fingerabdrücke an der Innenseite der Klinke? Hatte er sie angefasst oder nicht, als er die Tür zuschlug? Er wusste es nicht mehr. Wenn er sie angefasst hatte, musste er sie mit einem Tuch abwischen. Und wenn er nun irgendwelche wichtigen Fingerabdrücke beseitigte? Er sollte besser nichts anrühren.
    Erst jetzt schaute der vor Anspannung nass geschwitzte Nicholas sich um und bemerkte, dass in der Wohnung ohnehin schon jemand alles durchgewühlt hatte und zwar nicht zu knapp!
    Der Inhalt des Schuhschranks war ausgekippt, die Mäntel, die auf den Haken hingen, waren auf den Boden geworfen und die Regale leergefegt.
    In den Zimmern sah es noch schlimmer aus: Alles war auf den Kopf gestellt; das Sofa, die Sessel und die Stühle waren aufgeschlitzt, die Fensterbänke abgerissen, die Bücher auf einen Haufen geschmissen, an einigen Stellen war das Parkett herausgebrochen, und sogar die Tapeten waren zum Teil heruntergerissen. Und über diesem ganzen Schlachtfeld, das von hellem elektrischem Licht überflutet war, verkündete eine klangvolle Stimme mit typischem Moskauer Einschlag triumphierend:
    »Einen Gruß an die gesamte progressive Menschheit auf der Wellenlänge › Radio Relax ‹ ! Wir hören zu, sind high, sind happy!«
    Nicki fand das Radiogerät unter einem aufgeschlitzten Kissen, wollte den Ton abstellen, dachte aber wieder an die Fingerabdrücke und zog lieber den Stecker aus der Dose.
    Sofort ging alles leichter, und sein Kopf schaltete sich ein.
    Die Durchsuchung musste am Abend oder in der Nacht stattgefunden haben, jedenfalls in der Dunkelheit, warum hätte sonst das Licht brennen sollen? Sie konnte nicht von einem Einzelnen durchgeführt worden sein, der hätte die große Wohnung nicht so gründlich auf den Kopf stellen können, in der Küche waren sogar sämtliche Linoleumfliesen herausgerissen. Folgerung Nummer zwei: Es musste sich um eine Gruppe handeln. Die Suchenden hatten keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen; sie wussten also, dass der Wohnungsinhaber nicht kommen würde. Folgerung Nummer drei: Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie es, die ihn umgebracht hatten.
    Auch den Sender hatten sie ausgewählt. Herr Schibjakin würde kaum von solcher Musik »high« sein. Sie hatten sie angestellt, um ein wenig Spaß beim Suchen zu haben. Folgerung Nummer vier: Es waren junge Leute, sie gehörten mit Sicherheit nicht zu der kommunistischen Generation. Wie hatte Hauptmann Wolf noch gesungen: »Wie Sensenmänner stehen an den Straßen Tote / Schuld ist die Teufelsbrut, die rote.«
    Und noch eins. Sie hatten das Radio in voller Lautstärke laufen lassen, ohne Angst zu haben, dass die Nachbarn sich beschwerten oder die Miliz riefen. Als sie weggingen, machten sie nicht das Licht aus und

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