Der Favorit der Zarin
Hauptmanns:
»Hallihallo.«
Fandorin erklärte schnell das Wesentliche, ohne dabei auf die daraus abgeleiteten Einzelheiten einzugehen; er sagte einfach, er habe den Toten identifiziert und befinde sich in dessen Wohnung, wo bereits jemand eine Durchsuchung vorgenommen habe. Sehr viel wortreicher fielen die Entschuldigungen für das illegale Eindringen in die Wohnung des Bürgers Schibjakin aus. Nicholas erzählte sogar ehrlich, wie er wegen des Nachbarn erschrocken war, aber entweder Wolf interessierte sich nicht für diese Details oder er glaubte sie nicht. Wie dem auch sei, er hatte jedenfalls auch nichts zu beanstanden.
»Bitte ohne Einzelheiten, Nikolaj Alexandrowitsch. Ich habe schon gestern begriffen, dass Sie ein ernstzunehmender Mann sind. Richtig zupackend, das muss man Ihnen lassen. Wie heißt es doch so schön: Hut ab! Geben Sie mir die Adresse und die Telefonnummer, ich setze mich sofort ins Auto und bin gleich da.«
Nicholas wartete erst am Fenster stehend auf den Hauptmann; dann nahm er sich einen umgeworfenen Stuhl, stellte ihn hin und setzte sich. Er wollte nichts mehr anrühren und nicht mehr durch die Zimmer gehen; er hatte sich auch so schon mehr als genug herausgenommen.
Auch wenn Schibjakin ein Mörder war, er tat ihm Leid. Der Mann hatte seine Frau verloren und war vor Kummer übergeschnappt – eine solche Liebe nötigte einem, ohne dass man es wollte, Respekt ab. Er hatte von einer schweren, unheilbaren Krankheit gesprochen. Was für eine Krankheit hatte sie denn gehabt?
Er nahm wieder das Paket mit der Aufschrift »Ljuba« in die Hand. Sie hatten darin ebenfalls herumgewühlt, aber nicht besonders gründlich; es sah aus, als hätten sie die Zettel schnell durchgeblättert und wieder zurückgelegt. Die Fans des »Radios Relax« waren an der Geschichte von Madame Schibjakinas Krankheit und Tod nicht sonderlich interessiert, während diese Ljuba für Nicki nach dem gestrigen Gespräch mit dem Witwer und den Fotos, die er gesehen hatte, ein ganz realer Mensch, ja fast eine Bekannte war.
Die Reklame der Privatklinik »Hippokrateseid«, deren Devise »Für uns gibt es keine unheilbaren Krankheiten!« mit Filzstift unterstrichen war; die Anzeigen von Kurpfuschern und Wahrsagerinnen, all das war die beredte Chronik eines immer weiteren Abstiegs in die Hölle. Was hatte sie denn nun gehabt?
Nicholas nahm die eng beschriebenen Blätter mit der Überschrift Postume Epikrise von L. P. Schibjakina, geb. 1949 in die Hand. Im erklärenden Untertitel hieß es: »Erstellt aufgrund des schriftlichen Antrags von I. I. Schibjakin, Ehemann der Verstorbenen, als Ergänzung zur Krankengeschichte. Diese verflixte Klaue der Ärzte, ob man ihnen absichtlich diese Hieroglyphen beibrachte, damit Uneingeweihte unter keinen Umständen etwas davon verstünden?
Er konnte viele Worte nicht entziffern, und von denen, die er entziffern konnte, verstand er nur die Hälfte; ein Fachbegriff jagte den anderen. L. P. Schibjakinas Krankheit war nichts Exotisches, es handelte sich um Leukämie. Unmittelbare Todesursache war, wie auf der dritten Seite stand, eine akute Herz- und Lungeninsuffizienz auf der Basis einer zweiseitigen Pneumonie, ihrerseits Folge einer extremen Schwächung des Organismus.
Aber damit endeten die Notizen nicht.
Direkt neben dem finalen Der Exitus trat um 4.30 Uhr morgens ein war in derselben Farbe mit Kuli hinzugefügt: Neun Tage. Ljuba, wo bist du? Vierzig Tage. Ljuba, warum erscheinst du mir nicht im Traum?
Fandorin zuckte zusammen und ging ans Fenster, um mehr Licht zu haben.
Obwohl ebenfalls klein und unleserlich, war es eine andere Handschrift. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man meinen, es handele sich um die Fortsetzung des medizinischen Berichts. Noch eine Krankengeschichte, diesmal aber die Geschichte einer Gemütskrankheit.
Mitleidig seufzend las Nicholas den traurigen Bewusstseinsstrom. Der Witwer hatte seine Notizen wohl in Abständen zu Papier gebracht, aber nur am Ende ein Datum angegeben:
Die Schweine werden immer fetter, und du bist nicht da. Ljuba, erschein mir im Traum!!! Ljuba, ich kann nicht mehr. Ljuba, ich bin verrückt, ich habe den Fernseher zertrümmert, da war ein Schwein, es hat schon wieder gelogen. Ljuba, Ljuba, Ljuba, Ljuba, Ljuba, Ljuba, Ljuba, Ljuba (und so weiter, vier Zeilen lang). Heute ist es ein Jahr her. Ich war den ganzen Tag unterwegs, hab geguckt und dich dreimal gesehen: in der Straßenbahn, dann im Auto und in einem Schaufenster. Warum bist du
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