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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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kleiner Triumph glücklicher Zufälle: Nicholas erreichte ohne Unfall sein Office.
    Valja (der das Leben heute in einem rosa Licht erschien) wies er an, ihn mit niemand zu verbinden, schloss sich in seinem Zimmer ein und nahm sich die entwendete Liste vor.
    Die Fahrt durch den Dschungel der Straßen hatte Fandorin gut getan. Er war wieder imstande, ruhig nachzudenken.
    Also, erst einmal nur die Fakten, ohne Hypothesen.
    Erstens. Den Hass der »Unfassbaren Rächer« (ein blöder Name, aber so lange es keinen anderen gab, wollte er vorläufig dabei bleiben) zogen zwei Kategorien von Unternehmern auf sich: Geschäftsleute aus dem Bereich der Medizin und Auftraggeber besonders aggressiver und irreführender Werbung.
    Zweitens. Sofort nach Schibjakins Feststellung am 13. August, dass er »nicht allein« sei, nahm das Morden seinen Anfang. Der Komplize oder die Komplizen waren offenbar Männer der Tat und hatten professionelle terroristische Fertigkeiten. Das passte nicht besonders gut zu der infantilen Motivierung der Todesurteile. »Schwein und Betrüger«? Der reinste Kindergarten. Oder Klapsmühle. Obwohl der zwielichtige Hauptmann Wolf natürlich Recht hatte: Im heutigen Russland verstehen es viele, mit einem Gewehr und Sprengstoff umzugehen, und darunter sind etliche mehr oder weniger eindeutig Verrückte sowie Opfer des Afghanistan- und des Tschetschenien-Krieges.
    Schließlich die dritte und wichtigste Tatsache: Sechs Menschen waren umgebracht worden. Fünf wurden Opfer des Terrors: der in seinem Landhaus in die Luft gejagte Salzman, dann Sjatkow mit den beiden Kindern und dem Chauffeur. Das sechste Opfer war einer der »Rächer«; jemand hatte ihn vom Dach geworfen.
    Formulieren wir nun die wichtigsten Fragen, die sich aus dem oben Dargelegten ergeben, und versuchen wir, auf jede Frage eine Antwort zu finden.
    Es sind genau drei Fragen.
    Die erste Frage ist persönlich. Hat Schibjakin seinen Komplizen oder seine Komplizen davon informiert, welches Urteil gegen den Inhaber der Firma »Land der Räte« ergangen war? Wir wollen nicht verhehlen, dass dies unter den drei Fragen diejenige ist, die uns am meisten beschäftigt.
    Die zweite Frage ist eine Krimifrage. Wer hat Schibjakin ermordet, und welche Rolle spielt Wolf bei dieser Geschichte?
    Die dritte ist eine humanitäre Frage. Wie kann man die anderen Verurteilten vor der Gefahr warnen, die ihnen droht, wenn man der Miliz nicht trauen kann?
    Was für eine bemerkenswerte, erhebende Sache doch die systematische Methode ist! Jede Situation, die einem Kopfzerbrechen macht, ist, wenn man sie in ihre Bestandteile zerlegt, nicht mehr so kompliziert und durchaus lösbar; die Reklame des »Landes der Räte« lügt also nicht. Unbedacht, meine Herren Rächer, rechnen Sie Nicholas Fandorin zu den »Schweinen und Betrügern«!
    Moment mal, Moment mal. Schibjakin hatte, als er wegging, doch gesagt: »Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück!« Hieß das nicht, dass die Bestätigung des Urteils noch ausstand? Eine Diskussion konnte noch nicht stattgefunden haben, weil der »Richter« sofort nach seinem Weggang aus dem Office 13 a am eigenen Leib überprüft hatte, mit welcher Beschleunigung sich ein frei fallender Körper auf die Erde zubewegt.
    Getragen von der unerhörten Erleichterung, die wahrscheinlich nur die wenigen Menschen kennen, die einmal zum Tode verurteilt waren und dann begnadigt wurden, trällerte Nicholas sogar den »Hit der sowjetischen Estrade«, das optimistische Lied »Ich liebe dich, Leben, auch wenn das nicht sonderlich neu ist«. Und sofort fiel ihm Dostojewski ein. Wie das über diesen verhängte Urteil, das auf Erschießung lautete, in Zwangsarbeit umgewandelt worden war und er in der feuchten Kasematte der Peter-Paul-Festung vor Glück laut zu singen begann.
    Nun fiel es auch leichter, dem Krimiaspekt des Denkrätsels nachzugehen. Eine genaue Antwort konnte natürlich nicht gegeben werden, dazu lagen zu wenige Fakten vor, aber eine mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothese konnte man aufstellen. Zum Beispiel folgende: Jemand von denen, die das Urteil erhalten hatten (Sjatkow, Salzman und Nicholas selbst schieden aus, es musste jemand von den fünf anderen sein), hatte entgegen den Mutmaßungen von Hauptmann Wolf den Zettel ernst genommen und Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Dieser »Jemand« war nicht nur »ein Schwein und Betrüger«, sondern auch ein krimineller Typ, der es gewohnt war, sich zu verteidigen. Er hatte eigene Untersuchungen

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