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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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sogar. War das gut oder schlecht? Eher schlecht. Wenn du selbst einen Schmerz hast, hast du kein Auge für fremdes Leid.
    Schade, man konnte nicht sehen, was für ein Gesicht sie hatte, ein böses oder freundliches.
    Er quälte sich mit Zweifeln, ob er sich bemerkbar machen oder warten sollte, bis die Besitzerin der Kutsche sich ein wenig beruhigt hätte. Sie wurde partout nicht ruhiger, flüsterte ängstlich und rutschte hin und her.
    Plötzlich stand sie abrupt auf, kniete sich auf den hinteren Sitz, so dass sie nur zwei Werschok von Mitja entfernt war, und riss ihm den Pelz vom Leib.
    Er wollte schon ausrufen: »Ayez pitié, madame!«, da begriff er, dass sie ihn gar nicht sah.
    Sie zog an dem Riegel des Hinterfensters, öffnete es und wollte die Decke durch das Fenster stecken.
    »Der Weg ist weit. Kommt, zieht sie euch über!«
    Zwei Männerstimmen antworteten:
    »Danke, gnädige Frau.«
    »Und jetzt noch Wodka zum Aufwärmen!«
    Die Dame versprach:
    »Den bekommt ihr beim ersten Halt.«
    Mitja ließ die Zeit nicht ungenutzt verstreichen. Während sie den Schneesturm zu übertönen versuchte, glitt er leise zu Boden und versteckte sich unter dem Sitz. Es gibt ja eine gute Regel: Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, dann warte lieber.
    Der Fensterrahmen klapperte, die Federn über Mitjas Kopf quietschten – das Weib hatte sich nach hinten gesetzt. Recht hatte sie. Wenn man weit fährt, sitzt es sich hinten besser, da wird einem weniger leicht übel.
    Er hörte, wie ein Feuerstein klickte und Glas klirrte; über den Boden liefen auf einmal Schatten. Sie hatte die Deckenlampe angezündet.
    Vor seiner Nase standen zwei Füße in weißen Schühchen. Der linke Schuh hatte sich in seinen Bruder verhakt und warf ihn auf den Boden, woraufhin sich das unbeschuhte Bein im Seidenstrumpf auf dieselbe Weise des linken Schuhs entledigte, so dass die beiden Schühchen einsam und verwaist dastanden, denn die Dame legte auch die Beine auf den Sitz.
    Ein Schühchen flog zu Mitja in sein hartes staubiges Asyl und kam mit dem goldglänzenden Absatz direkt vor seinen Augen zu liegen – ein Gast aus einer anderen Welt, wo Schönheit und Eleganz herrschen.
    Das Gerüttele hatte ein Ende, die Schlittenkutsche glitt wie ein Boot im Wasser gleichmäßig dahin. Sie hatten also die Pflasterstraße hinter sich gelassen, folgerte Mitja. Bald würden sie auch an das Ende der Stadt gelangen.
    Wohin fahren wir eigentlich? Sie hatte gesagt: »Nicht nach Hause, sondern Richtung Moskau.« Ob sie da, Richtung Moskau, ein Landhaus oder ein Gut hatte?
    Von oben hörte man Schniefen und kurzes krampfhaftes Stöhnen. Sie weinte.
    Dann wieder brach sie in Klagen aus, aber sehr leise; man verstand nur einzelne Worte: »Niemand, absolut keiner . . . Was ist das nur, Herrgott . . . ? Irgendwie nicht richtig«, und ähnlich Unverständliches.
    Nachdem sie sich ausgeweint hatte, schnäuzte sie sich und murmelte:
    »Wie kalt es ist!«
    Da hatte sie nun wirklich Recht. Auch Mitja fror ohne die Pelzdecke, seitdem er nicht mehr so dicht am Ofen war.
    Wieder kamen die kleinen Füße mit den Seidenstrümpfen und den spitzen Knöcheln herunter. Der linke Fuß schlüpfte sofort in den Schuh, der rechte tastete den Boden ab, er konnte den Schuh nicht finden. Da kam eine dicke Hand mit einem funkelnden Ring am weichen Finger unter der Bank auf ihn zu.
    Das hatte er doch alles schon einmal erlebt, doch. Mitja hatte sich schon einmal genau so an die staubige Wand gepresst, während sich eine Hand nach ihm aus gestreckt hatte, aber damals war das ganz entsetzlich gewesen, diesmal war es dagegen kein Problem. Und das führte Mithridates zu einem philosophischen Urteil, das man glatt zum Frommen der Nachkommen hätte notieren können: Ein kluger Mensch hat nicht zweimal vor demselben Angst.
    Er schubste den flüchtigen Schuh der Hand entgegen, aber es kam, wie es kommen musste: Letztere hatte gerade vor, tiefer unter dem Sitz zu suchen, und stieß prompt auf Mitjas Finger.
    Alles Weitere ist ja klar: Gekreische, Schreien.
    Die Füße wie die Hand verschwanden schleunigst aus Mitjas Sichtfeld.
    Er musste sich beeilen, solange sie die Diener, die hinten auf dem Wagentritt standen, noch nicht gerufen hatte.
    Ächzend kroch er auf allen vieren aus dem Versteck. Er hatte sogar schon eine richtig vernünftige und respektvolle Formulierung vorbereitet. Sie lautete: »Gnädige Frau, zittert nicht. Ihr seht ja, wie klein ich bin. Ich zittere selber vor Euch und hoffe einzig

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