Der Favorit der Zarin
Leninburg.«
»Nenn meine Frau gefälligst nicht MM«, sagte Fandorin zum x-ten Mal. »MM« war die Abkürzung für »Madame Mamajewa«, und was »totales Pêle-mêle« hieß, war ihm sowieso schleierhaft.
Aber seine Stimmung war nach dem Widerruf der Einladung zur Enthauptung festlich und ein bisschen hysterisch. Wenn schon abhotten, dann auch richtig, warum eigentlich nicht? Er würde sich ohnehin heute nicht mehr auf den Kammersekretär konzentrieren können.
Sie verabredeten sich für elf Uhr – wenn die lieben Kleinen das ‚ Abendmärchen intus hätten und eingeschlafen wären. Beide telefonierten: Valja mit dem »Cholesterin«, Nicki mit der Babysitterin Lidija Petrowna, die bei ihnen übernachten sollte.
Dann eilte die beflügelte Valja nach Hause, um sich schön zu machen, Fandorin dagegen blieb noch eine Weile im Office, ging im Zimmer auf und ab und redete sich ein, alles sei noch einmal gut gegangen, das Chaos habe ihm nur seinen heißen Atem ins Gesicht geblasen, ihn aber nicht in Schutt und Asche gelegt und noch nicht einmal angesengt.
Vielleicht stimmte das alles nicht so ganz, aber das hing nicht mehr von ihm ab. Tu, was du tun musst, dann kommt, was eben kommt.
Man kann doch nicht jede Sekunde seines Lebens zittern, dass einem ein Unglück geschehen kann: ein Ziegelstein auf den Kopf fallen oder der Fahrer am Steuer eines entgegenkommenden Autos schlafen oder in dem Cafe, in dem du einen Espresso trinkst, eine Aktentasche mit Sprengstoff explodieren kann. Irgendwann wird sich das Unglück zweifellos ereignen, da kannst du nichts machen. Wenn nicht eine Aktentasche mit Sprengstoff explodiert, dann ist es eben ein Geschwür oder eine Thrombose (da weiß man noch nicht einmal, was schlimmer ist), aber dann gibt es nur eins: entweder zittern oder leben. Geh deines Weges und hoffe, dass er dich nicht zu bald in den geöffneten Schlund der Katastrophe führt.
Hoffen wir das Beste, beschloss Nicki. Nämlich, dass das Urteil nicht bestätigt worden war und noch nicht dem Vollstrecker vorlag.
Sowie, dass die anderen Verurteilten sich die Warnung zu Herzen nähmen.
Bevor er aufbrach, trat er wie gewöhnlich ans Fenster und betrachtete die Stadt bei Nacht. Lampen, vom Regen glänzende Dächer, das kurzsichtige, durch den Nebel leuchtende Auge des Mondes.
Wenn die Welt so ruhig und weise ist, scheint es, man brauche keine Angst zu haben. Der Tod, na und? Wenn man Glück hat, ist er schnell und nicht zu schrecklich. Wie heißt es im Happyend der Märchen, die von der Liebe handeln: »Sie lebten lange und glücklich und starben am selben Tag.« Vielleicht ist so ein Tod das wahre, endgültige Glück, philosophierte Nicholas. Dann werden wir, an den Händen gefasst, im Himmel zur Quelle dieses friedlichen Lichtes schreiten, auf dass der Abendnebel genauso nach oben abziehe und der weite, vom ruhigen Mondlicht überflutete Raum sich vor uns ausbreite, ohne dass der Schatten einer erneuten Trennung darüber läge.
ACHTES KAPITEL
LES CRIMES DE L’AMOUR oder
VERBRECHEN DER LIEBE
(De Sade, 1800)
Aber der Himmel war dunkel und gnadenlos, und der Mond hatte sich hinter den lockeren Wolken versteckt, als wolle er den Verstoßenen nicht mit der eitlen Hoffnung auf Rettung locken: unmöglich, der blinden Naturgewalt zu entkommen.
Der frierende Mithridates konnte nur das letzte Mittel mannhafter Vernunft zu Hilfe nehmen: die Philosophie. Der Fall aus den Höhen über den Wolken, vom Fuß des Throns hinab in den dunklen, kalten Abgrund, war in schwindelerregendem Tempo geschehen, so wunderte er sich. Aber worüber wunderte er sich eigentlich? Es war ja auch aus der Physik bekannt: Ein Körper steigt sehr viel schwieriger und langsamer nach oben, als er nach unten fällt. Es gibt nichts Natürlicheres als das Fallen, wohinter immer der Wunsch steht, sich an den Busen von Mutter Erde zu schmiegen. Auch der Untergang, der jedem droht, ist ein Fallen. Aber ein Fallen, das sich vom Standpunkt der Religion in einen Aufschwung verwandelt.
Meine Güte, wie kalt es doch war!
Auf dem Platz brannten ein paar Feuer, um die sich die Kutscher und Diener drängten, die auf ihre Herren warteten. Mitja wollte sich auf die nächstbeste Wärmequelle stürzen, aber als er das grobe Lachen des Gesindes hörte, hielt er sich zurück. Je unsensibler die Seele eines Menschen ist und je niedriger der Stand, desto härter und unbarmherziger begegnet er seinem Nächsten. Sie würden ihn wegjagen, sie würden ihn wieder wegjagen! Noch
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