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Der Favorit der Zarin

Der Favorit der Zarin

Titel: Der Favorit der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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auf Euer Erbarmen.«
    Aber die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Die großen Augen auf gerissen, die Beine untergeschlagen und die Hände an die Brust gepresst, so saß Pawlina Anikitischna Chawronskaja da – dieselbe Person, mit der, wenn man die logische Kette verfolgte, alle Unglücksfälle von Mitja ihren Anfang genommen hatten.
    Aus der Nähe betrachtet schien sie noch schöner zu sein, obwohl man doch hätte denken können, schöner ginge es gar nicht. Aber nur so, aus allernächster Nähe, waren das blaue Äderchen am Hals, der Pfirsichflaum auf den Wangen und der prächtige Leberfleck über der rosigen Lippe zu sehen.
    Als sie ein winziges Kind vor sich erblickte, hörte die Gräfin sofort auf zu schreien.
    »Hast du da gesessen?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Oder ist da noch jemand?«
    Mithridates war der Schreck so in die Glieder gefahren, dass er noch nicht wieder sprechen konnte; er schüttelte nur den Kopf.
    »Du bist ja noch ein richtiges Kind«, sagte die wunderschöne Pawlina Anikitischna endgültig beruhigt. »Wie bist du denn da hingekommen?«
    Da er auf diese Frage unmöglich eine kurze Antwort geben konnte, schwankte Mitja, womit er anfangen sollte.
    »Wie klein du bist! Kannst du denn schon sprechen?«
    Er nickte und dachte, am besten sei wohl, zuerst zu erklären, wieso er das Waldschrat-Kostüm anhatte.
    »Kindchen, mein Jüngelchen, was für klare Äugelchen du hast! Hab keine Angst, die Tante ist lieb und tut dir kein Leid. Weißt du denn, wie alt du bist? Und wie heißt du? Na, das weißt du bestimmt, so groß sind wir doch schon. So groß, riesengroß. Frierst du? Komm her, komm doch.«
    Sie war wohl wirklich ein gütiges, mitleidiges Weib. Sie strich Mithridates über den Kopf, umarmte ihn und küsste ihn auf die Stirn.
    Als er an ihren elastischen, warmen Busen gedrückt wurde, dachte er auf einmal: Wenn ich zu ihr wie ein Erwachsener sprechen würde, dann würde sie mich nicht so liebkosen.
    Und in diesem Moment hatte Mitja eine Erleuchtung.
    Woher rührten all seine Kümmernisse und Katastrophen? Daher, dass er für sein Alter zu vernünftig und gebildet war und sich mit den Erwachsenen nach den Regeln der Erwachsenen arrangieren wollte. Wenn er nicht so klug tun würde, sondern in Übereinstimmung mit seinem Alter lebte, dann befände er sich jetzt im Hause seines Vaters und würde keinen Kummer kennen. Was folgte daraus? Tja, verehrte Herrschaften, dass es einfacher, vorteilhafter und entschieden ungefährlicher war, ein unvernünftiges Kind zu sein.
    Und als die Gräfin ihre Frage wiederholte:
    »Na, wie heißen wir denn? Weißt du das noch?«
    Antwortete er, absichtlich babyhaft lispelnd:
    »Missja.«
    Und wurde mit neuen Küssen belohnt.
    »Was für ein toller Junge, so ein kluger Kerl! Und wie alt sind wir?«
    Er beschloss für alle Fälle, ein Jahr zu unterschlagen, und streckte ihr seine fünf Finger entgegen.
    »Fünf Jahre?«, fragte die Schönheit begeistert. »Wie groß wir schon sind! Und was wir alles wissen! Und Mama und Papa, wo sind die?«
    Die Antwort auf diese Frage war schon schwieriger. Mitja runzelte die Stirn und dachte nach, was er am besten sagen sollte.
    Pawlina Anikitischna sagte mitleidig seufzend:
    »Ach, da hat er die Stirn in Sorgenfältchen gelegt. Das arme Waisenkind! Und mit wem lebst du? Mit deiner Oma?«
    Mitja nickte.
    »Und wo ist die, deine Oma?«
    Mitja war sich unschlüssig, ob er sagen sollte: »Im Winterpalais.«
    Besser nicht. Erstens wird sie es nicht glauben. Zweitens, je weiter vom Winterpalais, desto sicherer war es jetzt wahrscheinlich.
    Frau Chawronskaja war ein gutherziges Weib, sie würde das Kind nicht in den Frost jagen! Wenn er wenigstens eine kurze Zeit bei ihr überwintern und seine Gedanken ordnen könnte.
    Wieder interpretierte sie sein Schweigen auf ihre Weise:
    »Ach, sie ist gestorben! Du armes Häschen.« Und auf Mitjas Scheitel, wo die weiße Locke war, fiel eine große Träne. Gut, dass die Gräfin die graue Strähne im Halbdunkel nicht bemerkte, sonst hätte sie sich vor Mitleid noch ganz in Tränen aufgelöst.
    »Hast du denn überhaupt jemand, Mitjuschenka?«, fragte Pawlina Anikitischna betrübt.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Ich habe auch niemand«, sagte sie traurig. »Das macht nichts. Am Anfang ist es schwer, aber dann gewöhnt man sich daran. Sei nicht traurig, ich nehme dich mit.«
    »Wohin?«
    »Nach Moskau. Kommst du mit?«
    Das konnte doch nicht wahr sein! Was für ein unerhörtes,

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