Der Favorit der Zarin
ein einziger solcher Versuch, und man könnte für immer die Liebe und den Respekt vor dem Menschengeschlecht verlieren, und wozu sollte man dann leben? Dann wäre es besser, in Wind und Schnee zu erfrieren!
Umso mehr als es gar nicht unbedingt sein musste, dass er erfror.
Seine von der Philosophie gestärkte Vernunft kam zu sich und offenbarte ihre wundertätige Kraft.
Na, da standen doch jede Menge Kutschen auf dem Platz. Er könnte doch in irgendeine hineinklettern, ohne dass es die Diener bemerkten, und warten, bis sie losfuhr. Dann würde er schon weitersehen. Egal, wem die Kutsche gehörte, es würde für ihn leichter sein, sich ihrem Besitzer, einem großherzigen Adeligen, anzuvertrauen als einem Plebejer. Er brauchte ja nur auf Französisch zu sagen: »Ich flehe Euch an, hört mir zu!«, schon wäre klar, dass der kleine Lausejunge kein gewöhnlicher Bettler war.
Mitja huschte durch den Freiraum zwischen den zwei langen Wagenreihen hindurch, um sich eine geeignete Zuflucht zu suchen. Die Pferde standen da, klirrten mit dem Geschirr, fraßen schmatzend den Hafer aus den um ihren Hals gebundenen Futtersäcken, der Winter machte ihnen nichts aus. Da kam einem der Gedanke: Wie viel niedriger und unvollkommener als das Vieh, das wir malträtieren und verachten, doch der Mensch seiner physischen Natur nach ist!
Schließlich wählte er eine schmucke siebenfenstrige Kutsche mit einer Fürstenkrone auf der Tür. Vielleicht gehörte sie jemand aus dem Kreis der Vertrauten der Kaiserin? Dann könnte es durchaus sein, dass der Besitzer Mithridates schon einmal gesehen hatte.
Er war schon die Stufe hochgeklettert und wollte an der Tür ziehen, da sah er auf einmal, dass aus der Nachbarkutsche weißer Rauch stieg. Eine Winterkutsche, mit Heizung! Das wäre etwas für ihn!
Er blickte über die Kruppe des Pferdes und schaute auf das Feuer, das keine zehn Schritte entfernt war. Dort war es hell und hier finster, sie würden nichts bemerken.
Er lief zu der Reisekutsche, stellte sich auf den Tritt und spähte vorsichtig ins Innere, ob dort vielleicht der Kutscher saß und sich aufwärmte.
Die Kutsche war leer; offenbar war es den Dienern nicht erlaubt, im Inneren zu sitzen, oder sie fanden es am Feuer bei den anderen lustiger.
Eine Sekunde, und Mitja war drinnen, in der wohligen Wärme.
Es war dunkel und leise, im Ofen brannte funkenstiebend die Kohle, die Fenster waren bis zur Mitte beschlagen. Oh, wie wenig es im Leben braucht, damit eine Katastrophe in Seligkeit umschlägt! Man muss seinen frierenden Körper nur an eine heiße schmiedeeiserne Fläche drücken können, sonst nichts, rein gar nichts.
Mitja schlang beide Arme um den Ofen, hockte sich mit seinen feuchten Bastschuhen hin, hüllte sich bis über den Kopf in eine Pelzdecke, die auf dem Sitz gelegen hatte, und dachte an nichts mehr, sondern genoss nur noch Trockenheit und Wärme.
Er wachte von einer lauten Stimme auf, die rief:
»Schneller! Treib sie an!«
Im ersten Augenblick verstand er nicht, warum die Welt wackelte. Dann hörte er, wie die Kufen knirschend über die schneebedeckten Pflastersteine glitten und erinnerte sich: Ach so, er war ja in einer Kutsche.
Zitternd lüftete er den Rand der Decke. Auf dem Vordersitz saß jemand. Er konnte in der Dunkelheit nicht sehen, wer, hörte aber kurze, aufgeregte Atemzüge.
Die sitzende Person richtete sich auf, und auf dem grauen Hintergrund des Vorderfensters zeichnete sich eine Kapuze mit Bändern ab. Es war also eine Frau. Das war gut, denn das schöne Geschlecht ist barmherziger als das männliche und lässt sich weniger leicht zu plötzlichen Gewaltausbrüchen hinreißen, wie zum Beispiel, den ungeladenen Gast ohne irgendwelche überflüssigen Gespräche einfach hinauszuwerfen.
Da musste er aber fest geschlafen haben! Mitja hatte weder gehört, wie die Kutsche irgendwo vorgefahren war, noch, wie sich die Besitzerin hineingesetzt hatte.
Die kam auf einmal in Bewegung und klopfte mit dem Ring ans Fenster. Sie schrie laut:
»Doch nicht zur Morskaja! Ich kann doch nicht nach Hause!«
Eine junge Stimme.
Der Kutscher hatte offenbar nichts gehört, denn die Dame löste den Fensterriegel, öffnete das Fenster einen Spalt und wiederholte durch das Heulen des Windes:
»Nein, nicht nach Hause! Fahr Richtung Moskau!«
Sie ließ das Fenster herunter und murmelte:
»Herrgott, Barmherziger, behüte mich, rette mich . . .«
Ihr musste irgendein Unglück zugestoßen sein. Sie seufzte stark und schluchzte
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