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Der Federmann

Der Federmann

Titel: Der Federmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bentow
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stieg. Die Stufen zu zählen hatte sie längst aufgegeben, es waren achtundsechzig, das wusste sie, und daran würde sich nie etwas ändern.
    Sie zog den Kopf ein. In der Wohnung war es still, die Mutter war noch bei der Arbeit. Lene besuchte sie gern in der kleinen Drogeriefiliale, wo die Mutter einen weißen
Kittel trug und wie eine Ärztin aussah, jedenfalls in ihren Augen. Der Laden war so klein, dass man mit den Schultern überall anstieß, und die Mutter war die einzige Verkäuferin darin. Es gab eine Überwachungskamera, im Hinterzimmer stand der Monitor. Wenn keine Kundschaft da war, versteckte sich Lene zwischen den Regalen, und die Mutter musste sie auf dem Monitor finden.
    Lene warf die Schultasche in die Ecke. Jo hockte auf dem Bett und schaute sie an. Sie nahm ihn mit in die Küche, wo sie eine Schale mit Schokopops füllte. Sie goss Milch darüber, klemmte sich Jo unter den Arm und trug die Schale zum Wohnzimmer. Die Tür war angelehnt, sie drückte sie auf.
    Da zuckte sie zusammen.
    Auf dem Lampenschirm hockte etwas, was dort nicht hingehörte.
    Es starrte sie an.
    Sie hielt einen Moment die Luft an und rührte sich nicht. Dann stellte sie behutsam die Schale auf den Wohnzimmertisch und legte das Stofftier daneben.
    Vorsichtig näherte sie sich der Lampe, setzte einen Schritt vor, dann noch einen.
    Der Vogel flog auf und flatterte durch den Raum. Lene duckte sich, das hektische Flügelschlagen war ihr unangenehm.
    Es war ein kleiner Vogel, mit einem schwarzen Kopf und rotem Gefieder auf der Brust.
    Er prallte gegen die Zimmerdecke und flatterte weiter.
    Lene streckte die Hände nach ihm aus.
    »Komm doch«, flüsterte sie, »komm her.«

SECHS
    E r ließ die Klinge besonders vorsichtig über die Haut gleiten, ein Schnitt, und er müsste mit einem Pflaster zu seiner Verabredung erscheinen.
    Verabredung?, dachte er. Nein, es war doch nur ein Termin.
    Er streckte den Hals und bearbeitete die empfindliche Stelle am Kehlkopf. Sogleich stellte sich das Bild der Toten ein, schon sickerte es dunkelrot aus der Wunde.
    Trojan fluchte.
    Er betupfte die Stelle mit dem blutstillenden Stift, wusch sich die Schaumreste aus dem Gesicht und tupfte noch einmal nach. Es würde auch ohne Pflaster gehen.
    Er betrachtete sich kritisch im Spiegel, zog den Bauch ein und spannte die Muskeln an.
    Schließlich klatschte er sich Rasierwasser auf die Wangen, nicht zu viel, das könnte aufdringlich wirken.
    War es nun ein Termin oder ein Rendezvous?
    »Nur Mut«, sprach er zu sich selbst.
    Im Schlafzimmer öffnete er den Schrank, es folgte die Hemdenfrage. Das nachtblaue mit dem Button-Down-Kragen wäre nicht schlecht, aber es war leider zerknittert. Er musste es wohl irgendwann einmal achtlos hineingeworfen haben. Überhaupt bügelte er nicht gerne, aber
manche Hemden verlangten einfach danach. Er nahm ein weißes aus Leinen hervor, das würde gut zu der schwarzen Jeans passen, aber sah Leinen nicht irgendwie altmodisch aus?
    Trojan zog mehrere Hemden hervor, dann entschied er sich dafür, doch schnell das nachtblaue zu bügeln, sah zur Uhr, bekam leichte Panik und klappte das Bügelbrett auf.
    In diesem Moment klingelte das Telefon.
    Jetzt sagt sie ab, dachte er, aber es war ja das Festnetz, so kurzfristig sagte man doch nur auf dem Handy ab.
    Er ging zum Telefon und schaute aufs Display. Angezeigt wurde die Nummer von Friederike, seiner Exfrau. Sah ihr ähnlich, ausgerechnet heute Abend anzurufen.
    Nicht auszuschließen, dass sie gewisse Vorahnungen hatte.
    Er wollte sich gerade abwenden, als ihm einfiel, dass der Anruf ja auch etwas mit Emily zu tun haben könnte.
    Also hob er ab.
    »Hallo?«
    »Hallo, Papa.«
    Es war seine Tochter.
    »Emily!«
    Sogleich packte ihn das schlechte Gewissen. Er hatte sich die ganze Woche nicht bei ihr gemeldet, obwohl er es sich doch fest vorgenommen hatte.
    »Wir geht es dir, mein Schatz?«
    »Och, na ja.«
    »Also nicht so gut?«
    »Doch, doch.«

    Sie langweilt sich, dachte er, sie braucht etwas Zuspruch von ihrem Vater, aber ihr Vater ist mal wieder schrecklich in Eile.
    »Ich dachte, ich versuch’s mal auf dem Festnetz. Falls du zu Hause bist.«
    Er sah zur Uhr, es war zwanzig vor acht.
    »Tja, und da hab ich wohl mal Glück gehabt.«
    Er gab ein leises Brummen von sich.
    »Oder hast du Besuch?«
    »Nein, nein.«
    Sie begann zu kichern. »Doro ist da, hab ich recht?«
    »Nein.«
    Er spürte Hitze in sich aufsteigen. Dass sie jetzt auch noch Doro erwähnen musste.
    »Grüßt du sie von

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