Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
„täterimitierenden Anteilen”, weil wir das klinisch bedeutsamer finden (siehe Boon, Steele & Van der Hart 2011; Van der Hart, Nijenhuis & Steele 2010). Ja, diese Persönlichkeitsanteile „stammen” sozusagen vom Täter und in hoch dissoziativen Menschen glauben diese Anteile sogar, sie „seien” der Täter selbst. Doch indem wir sie „täterimitierende Anteile” nennen, betonen wir gleich von Anfang an sowohl dem Alltagspersönlichkeitsanteil (genannt ANP: anscheinend normaler Persönlichkeitsanteil) als auch diesen „feindseligen” Persönlichkeitsanteilen gegenüber, dass wir einen Unterschied machen zwischen ihnen und den Tätern selbst. Allgemein finde ich den Begriff „Introjekt” zu passivisch, und „State”, also Zustand, erscheint mir ein zu limitierendes Konzept, da ihm die Ich-Perspektive fehlt und weil bei dissoziativen Persönlichkeiten solche Anteile aus mehr als einem mentalen Zustand bestehen.
MH: Wie, glauben Sie, entwickelt ein Kind einen solchen täterimitierenden Anteil?
OvdH: Meinem Verständnis nach entwickeln Kinder in missbräuchlichen bzw. Misshandlungssituationen mentale Abbilder des oder der Täter(s). Dies geschieht unter überwältigenden, also desintegrativen Umständen. Die Desintegration findet statt in Form einer Dissoziation, und zwar durch die Aufteilung der Persönlichkeit in verschiedene voneinander getrennte Anteile. Diese Anteile werden entweder hintereinander oder auch simultan auftreten bzw. gespürt werden. Ein Anteil zum Beispiel wird nur Angst und Schmerz fühlen; ein anderer Anteil schaut von fern zu, was dem Körper angetan wird; wieder ein anderer Anteil ist wütend und will sich wehren und ein Anteil spiegelt bzw. imitiert den Täter. – Und alle diese Anteile wiederum sind abgetrennt von anderen Anteilen, die gerade nicht „da” sind – wie zum Beispiel der Alltagspersönlichkeitsanteil. Ich bin davon überzeugt, dass alle diese Anteile für das Überleben der Person in solchen extremen, lebensbedrohlichen Situationen von entscheidender Bedeutung sind – auch die täterimitierenden Anteile. Deren Aufgabe besteht darin, weiteren Schaden durch die äußeren Täter von der Persönlichkeit abzuwenden. Davon bin nicht nur ich überzeugt, sondern diese Überzeugung teile ich mit meinen KlientInnen.
Ein Beispiel: Wenn ein verletzter oder angsterfüllter Persönlichkeitsanteil weinen will, was während reaktivierter Traumaerinnerungen (Wiedererleben der Misshandlungssituation) leicht passieren kann, dann beginnt der täterimitierende Anteil, den Teil, dem die Tränen kommen, zu bekämpfen, um eine Eskalation der Gewalt durch den Täter – die früher tatsächlich in solchen Situationen stattfand – zu verhindern. Außerdem fühlen sich diese Anteile dann auch „machtvoll”, was dazu führt, dass sich die gesamte Persönlichkeit in solchen Situationen zwar dissoziiert, aber auch „unter Kontrolle” fühlen kann und manchmal daraus durchaus einen gewissen Stolz entwickelt („Es wird nicht geheult.”). Hinzuzufügen ist natürlich, dass täterimitierende Anteile auch die Rationalisierungen des äußeren Täters übernehmen können, etwa: „Das hast du verdient”, „Du sollst auch bestraft werden”, „Du bist schlecht und böse”. Doch solche Äußerungen sollten die Therapeuten nicht davon abhalten, sich auf die ursprünglich dem Überleben dienende Bedeutung dieser dissoziierten Anteile zu konzentrieren.
MH: Wie unterscheiden Sie zwischen einem selbstverteidigend-aggressiven Anteil, etwa einem in der Pubertät entstandenen Zustand des Sich-Wehrens, und einem täterimitierenden Anteil?
OvdH: Wir unterscheiden kämpferische Anteile und täterimitierende Anteile. Kämpfende Anteile sind unserem Verständnis nach emotionale Persönlichkeitsanteile (EPs), die stecken geblieben sind im biologischen Aktionssystem „Ankämpfen gegen Bedrohung”. Sie werden offen ärgerlich und wütend, besonders dann, wenn traumatische Erinnerungen aktiviert werden. Indem sie kämpferisch werden, verteidigen sie schwächere Anteile oder die Persönlichkeit als Ganzes. Da sie jedoch leicht auch auf unangemessene Weise wütend werden und in dieser Stimmung zu kämpfen beginnen, können sie die Situation für sich noch gefährlicher machen, etwa während einer Gruppenvergewaltigung. Sie können so auch eine andere unbeteiligte Person gefährden, die völlig zu Unrecht als gefährlich wahrgenommen wird. Täterimitierende Anteile dagegen richten, wie oben
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