Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
Persönlichkeitswachstum überhaupt stattfinden kann – etwas, das mehr ist als bloße äußere (und damit nicht wirklich innerlich verankerte und je nach sozialem Umfeld jederzeit wieder veränderbare) Anpassung. Meines Erachtens ist die Fähigkeit, sich auf die eigene Bindungssehnsucht einlassen zu können und zu versuchen, sie mit einem anderen Menschen umzusetzen, die Grundvoraussetzung für die Persönlichkeitsentwicklung, und schon ohnehin dafür, Psychotherapie machen zu können. Wer sich nicht einlassen kann, mit allem Zittern und Zagen, wird als früh traumatisierter Mensch in einer Psychotherapie über das momentane Anpassen hinaus nicht weit kommen. – Das sehen wir z. B. immer, wenn KlientInnen von der Klinik nach Hause kommen und sofort wieder ihr altes, vor-klinisches Leben wieder aufnehmen. Daher ist für mich dies einer der Punkte, die ich in probatorischen Sitzungen versuche herauszufinden: Nicht nur, ob die KlientIn grundsätzlich introspektionsfähig ist, sondern auch, ob sie bereit ist, sich auf eine therapeutische Beziehung einzulassen, in der sie durchaus schmerzvoll, aber auch oft staunend und neue Perspektiven eröffnend lernen könnte, „wie es hätte sein können und sein sollen, und ja, wie es sein kann und für mich auch sein wird“. Meine Erfahrung ist: Bei manchen KlientInnen kann es ein gutes Jahr dauern, bis sie entscheiden, ob sie diesen Weg gehen wollen. Viele müssen uns erst von allen Seiten beäugen und intensiv prüfen, bevor sie sich auf ein solches Abenteuer einlassen – und dann geht es im Grunde psychotherapeutisch erst los (siehe auch Interview 5 mit der Kunsttherapeutin Renate Stachetzki in diesem Buch).
Dabei bekommen wir PsychotherapeutInnen beide Formen von Erfahrungen einer KlientIn zu spüren: die gute (ein wenig Zuwendung bekommen; sich zumindest die Sehnsucht danach und die Fähigkeit, sich „trotz allem“ einzulassen, erhalten haben) und die schlechte, also die Täter-Übertragung. Wir werden mit ihrer Liebebedürftigkeit ebenso umgehen müssen, ohne sie auszubeuten, wie wir uns herumschlagen mit allen ängstlichen und misstrauischen Vermutungen und entsprechenden Verteidigungshandlungen: „Du bist doch am Ende genauso wie meine Mutter (mein Vater). Auch du wirst mich verlassen, quälen, im entscheidenden Moment fallen lassen. Ich werde mich gegen dich verteidigen müssen, um überhaupt ins Leben zu kommen.“ In der therapeutischen Beziehung zu sein, zu bleiben, gemeinsam da hindurchzugehen ist wichtig, denn es ermöglicht die Nachreifung der KlientIn, ihr Umlernen: „Ein Mensch, von dem ich eine Weile abhängig bin, kann auch ganz anders sein als das, was ich so früh und prägend erlebt habe“ wird zu: „Ich kann auch ganz anders sein als meine Mutter / mein Vater“ bzw.: „Ich kann mich innerlich ganz anders liebevoll behandeln, als meine Mutter / mein Vater mich behandelt haben.“ Häufig wird erst auf diese Weise eine tiefe Traumabearbeitung möglich, in der alle wesentlichen Persönlichkeitsanteile ihr Wissen und ihre Erfahrung auf liebevolle, tröstende, versorgende und den Schmerz hinter sich lassende Weise teilen; erst dann ist auch die intergenerationelle Weitergabe von traumatisierenden Beziehungen, die ewige Wiederholung von Opfer- und Täterschaft zu beenden.
Entscheidend ist, dass wir zuallererst von den KlientInnen als ein liebevoller und achtsamer Mensch wahrgenommen werden, der eine sichere Bindung, Trost und möglichst konkrete und praktisch brauchbare Hilfe anbietet. Auch diese muss eher sehr basal sein: Manchmal brauchen sie Informationen, manchmal brauchen sie Hilfe beim Telefonieren, beim Verfassen von Briefen; sie brauchen vielleicht Rollenspiele für schwierige Gesprächssituationen, das alles mit unserer Haltung verbunden: „Du wirst das so gut machen, wie du nur kannst, und komm, wir schauen, dass du es wirklich so gut machen kannst, wie es dir möglich ist.“
Manches ist mehr Sozialarbeit und Coaching als Psychotherapie. Und doch ist es basal, um die therapeutische Beziehung aufbauen zu können. Im Laufe der Zeit, wenn die Beziehung tragfähig ist, wird die KlientIn von uns mehr und mehr herausgefordert, aus der bedürftigen Position (zumindest immer wieder) herauszukommen und immer weiter selbstfürsorglich zu werden – was wir ja vorsichtig vom ersten Tag an beginnen anzuregen. Dieser Prozess, das möchte ich noch einmal betonen, geht von außen nach innen: Erst wird er durch eine andere Person – hier die
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