Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
versuchen musste herauszufinden, was in der Zwischenzeit geschehen ist, wäre sie nicht immer verzweifelter und suizidaler geworden – dann wäre sie nicht in Psychotherapie gegangen. Natürlich hätte sie lieber eine beste Freundin oder mehrere, natürlich möchte sie gern eine Partnerschaft leben. Doch wenn, wie bei Frühtraumatisierten üblich, das Urvertrauen durch Urmisstrauen ersetzt wurde, gibt es in der Regel keine ausreichend nahen und guten Beziehungen; also treten wir Profis erst einmal an die Stelle. Professionalität allein ist jedoch nicht genug. Wir TherapeutInnen können Aberhunderte von therapeutischen Techniken beherrschen – wenn wir unseren KlientInnen nicht auf liebevolle Weise begegnen, sie nicht in ihrem Innersten, da wo sich ein kleiner harter Knoten der Angst und Verzweiflung gebildet hat, erreichen –, dann können wir über vorübergehende äußere Anpassung hinaus keine therapeutischen (Persönlichkeits-)Fortschritte erwarten. Für Letztere reicht eine professionell-höfliche Form der Zuwendung nicht aus. Dann ist unsere echte Zuneigung gefragt, denn die KlientIn geht uns ans Herz, im wahrsten Sinne des Wortes, und sie muss, wenn es wirklich „ums Ganze“ und damit um wirklich dauerhafte Veränderung geht, von dort eine Antwort bekommen.
Damit ist keine private Beziehungsaufnahme gemeint. Die TherapeutIn bleibt der engagierte Profi. Doch sie wird versuchen – und viele KollegInnen tun das, egal was man ihnen in ihrer Ausbildung erzählt hat –, mit früh traumatisierten KlientInnen eine Herz-zu-Herz-Verbindung aufzubauen, weil sie spürt, dass das lebensnotwendig für diese KlientInnen ist, zumindest in einer bestimmten Phase ihres Lebens und Lernens.
Angenommen sein – gefördert werden
„Agape“ würden griechischkundige Neutestamentler die Form der liebevollen Zuwendung nennen, die in der Seelsorge wie in der Psychotherapie so wichtig ist: Eine selbstlose Form der Liebe, die nichts will, nichts begehrt, nichts vom anderen braucht, sondern etwas übrig hat für den anderen Menschen. Manche betrachten diese Eigenschaft als „Mütterlichkeit“, auch wenn wir uns als TraumatherapeutInnen bemühen, „mehr Coach als Mama“ zu sein. Wir werden die Übertragungsbeziehung nicht fördern, indem wir etwa zu einem erwachsenen Menschen sagen: „Sieh mich bitte als deinen Mutter-Ersatz an.“ In Wirklichkeit ist die sogenannte Mutter-Übertragung (auch männliche Therapeuten bekommen sie, nicht nur die Vater-Übertragung!) wohl eher die Übertragung der Sehnsucht nach einer basalen sicheren Bindung. Es ist interessant, dass dies so oft mit „Mütterlichkeit“ gleichgesetzt wird. Nennen wir es also Sehnsucht nach Angenommensein einerseits und das liebevolle Annehmen und Fördern andererseits, um das es geht.
Die Sehnsucht nach diesem fraglosen Angenommensein und Gefördertwerden führt die meisten KlientInnen zu uns, trotz allem Misstrauen, trotz aller schlechten Vor-Erfahrungen. Manche sind wirklich so verwundet, dass sie das Gefühl haben: „Wenn mich jetzt noch mal eine Person, diese hier, auch verrät – dann sterbe ich, einfach so. Noch einmal halte ich diesen Schmerz, verraten und verlassen zu werden, nicht aus.“ Wer das als Gegenüber spürt, weiß, wie viel Verantwortung man – hier: die PsychotherapeutIn – in einer solchen Situation übernimmt. Manche KollegInnen, vielleicht sogar viele, möchten es lieber einfacher haben. Weniger tief gehend, eher als eine reine Geschäftsbeziehung, freundlich, höflich, abgegrenzt, Feierabend. Und das meist nicht, meinte eine junge Kollegin, mit der ich darüber sprach, weil sie „zu faul“ sind, sondern weil sie Angst haben, ein bisschen Herz zu investieren. Sie haben Angst, die PatientIn abends „mit nach Hause“ zu nehmen, Angst, in „Verstrickung“ zu geraten, Angst, von der PatientIn „ausgesaugt“ zu werden. Um dieses Wagnis einzugehen, muss eine TherapeutIn vermutlich jeden der „dunklen“ Winkel in ihrem Innern kennen(lernen), stets aufs Neue bereit sein, über sich nachzudenken und sich und ihr Verhalten kritisch anzuschauen, und eine gute Supervision haben. Wenn nicht, droht bald ein Burnout. – Das hatte die eben erwähnte Kollegin bereits erkannt und ich konnte ihr nur zu ihrer Erkenntnis gratulieren.
Das Bedürfnis nach sicherer, haltgebender Beziehung können wir bei früh und komplex traumatisierten Menschen gar nicht verhindern, ja, es ist meiner Meinung nach sogar essenziell, damit ein
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